Kind der Hölle
Schultern, so als lasteten die unzähligen Beichten, die er in den vielen Jahrzehnten seiner Tätigkeit gehört hatte, schwer auf ihm. Am Gürtel seiner Soutane baumelte ein Rosenkranz, und er hielt eine Bibel an sich gepreßt, die noch älter als er selbst zu sein schien und offenbar häufig gelesen worden war, denn der Ledereinband war abgegriffen, und der Buchrücken hatte sich halb gelöst. Der Priester schloß die Tür so energisch, als wollte er die letzten Besucher seines Beichtkindes aussperren, und dabei ließ er Ted nicht aus den Augen. Fast sah es so aus, als würde er das Wort an ihn richten, doch dann preßte er die Lippen zusammen, wandte sich ab und schlurfte mühsam den Korridor entlang.
Erst nachdem der Geistliche um die Ecke gebogen war, betrat Ted das Zimmer seiner Tante, dicht gefolgt von Janet.
Sofort stieg ihnen der Geruch des Todes in die Nasen, und sie hatten den Eindruck, zu spät gekommen zu sein, denn die zusammengeschrumpfte Gestalt im Bett gab kein Lebenszeichen von sich.
Coras dünne Haarsträhnen klebten am Kopf und ihre Augen waren geschlossen. Die linke Hand lag kraftlos auf ihrem Unterleib, aber mit der rechten umklammerte sie eine dünne Halskette.
Die Stille im Raum war so beklemmend, daß Janet unwillkürlich nach Teds Hand griff, was sie lange nicht mehr getan hatte. Plötzlich durchbrach ein gurgelndes Röcheln die Totenstille.
Coras Brust hob sich, sie pumpte etwas Luft in ihre schwachen Lungen und öffnete langsam die Augen.
Sie blinzelte.
Ihr trüber Blick schweifte durchs Zimmer, so als suchte sie etwas.
Sie fand Ted Conway.
»Weg!« keuchte sie kaum hörbar. »Bleib weg von hier!«
Janet eilte auf das Bett zu und legte der alten Frau beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Reg dich nicht auf, Tante Cora. Alles wird gut werden.«
Der eingefallene Mund der Sterbenden versuchte verzweifelt, Wörter zu bilden. »Die Kinder«, flüsterte sie. »Ich will die Kinder sehen.« Mit ihren klauenartigen Fingern umfaßte sie Janets Handgelenk und schaute ihr tief in die Augen. »Bring sie her!« Trotz der kaum verständlichen Stimme hörte es sich nicht wie eine Bitte, sondern wie ein Befehl an. »Bring sie zu mir!«
Janet zögerte. Ted und sie hatten Cora Conway in all den Jahren, seit sie verheiratet waren, nur ein halbes dutzendmal besucht. Und es waren immer sehr kurze Besuche gewesen, denn Cora hatte ihren Neffen jedesmal aufgefordert, sofort ihr Zimmer zu verlassen. Deshalb hatte Janet bei ihren beiden letzten Besuchen gar nicht erst versucht, Ted zum Mitkommen zu überreden.
Die Kinder hatte sie nie mitgebracht, weil sie befürchtete, daß die wunderliche alte Frau ihnen Furcht einjagen würde, und daß Cora ihrerseits sich aufregen könnte, wenn sie ihren Großneffen und ihre Großnichten sah. Sie hatte nie nach ihnen gefragt, und wenn Janet ihr von den Zwillingen und von Molly erzählte, war sie sich nie sicher, ob die Greisin überhaupt zuhörte und etwas verstand.
Doch jetzt wollte Cora die Kinder sehen. Janet sagte sich, daß Jared und Kim mittlerweile alt genug waren, um nicht nur den Anblick ihrer sterbenden Großtante zu verkraften, sondern sogar zu begreifen, daß eine Geisteskrankheit das Leben der armen Frau schon vor Jahrzehnten zerstört hatte.
Entschlossen legte sie ihre warme Hand auf Coras kalte Finger und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich hole die Kinder … Wir kommen gleich zurück.«
»Ich bleibe bei Molly«, sagte Ted auf dem Rückweg in die Empfangshalle. Janet nickte zustimmend, erleichtert darüber, daß seine Entscheidung ausnahmsweise mit ihrem eigenen Wunsch übereinstimmte. »Es wird bestimmt nicht lange dauern«, versicherte sie. »Ihr Leben scheint ja nur noch an einem seidenen Faden zu hängen.«
Auf dem Korridor bereitete sie die Zwillinge behutsam darauf vor, in welchem Zustand sie ihre Großtante vorfinden würden, doch ihre Sorgen erwiesen sich als völlig unbegründet. Ohne sich an den Gerüchen im Zimmer – einer Mischung aus Desinfektionsmitteln und Tod – zu stören, gingen sie direkt auf das Bett zu. »Tante Cora?« sagte Kim sanft. »Ich bin Kimberley, und ich freue mich sehr, dich endlich kennenzulernen.«
Coras Blick verweilte nur für den Bruchteil einer Sekunde auf dem Mädchen. Ihr Hauptinteresse galt Jared, den sie lange eindringlich anstarrte.
Er streckte eine Hand aus, so als wollte er sie berühren. »Ich bin Jared …«
Cora ließ ihn nicht ausreden und wich seiner Hand aus. »Ein Conway … das sehe ich …
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