Kind der Hölle
Frühe los und müßten spätestens um elf in St. Albans sein. Würden Sie ihr das bitte ausrichten?«
»Selbstverständlich. Dann erwarten wir Sie morgen.«
Janet legte den Hörer auf und informierte Ted über Coras letzten Wunsch. Sie war sich nicht sicher, ob er überhaupt zuhörte, bis er mit schwerer Zunge brummte: »Warum, zum Teufel, sollte ich Tante Cora besuchen? Sie ist total verrückt gewesen, soweit ich mich zurückerinnern kann. Was soll ich bei ihr?«
Obwohl Janet sich einzureden versuchte, daß diese Gefühlskälte nur auf den übermäßigen Alkoholgenuß zurückzuführen war, wurde sie wütend. »Um Himmels willen, Ted, die arme Frau liegt im Sterben, und du bist ihr einziger Verwandter!«
»Na und? Was hat sie denn jemals für mich getan?«
Bevor Janet etwas darauf erwidern konnte, sank sein Kopf aufs Sofa, und seine Augen fielen zu. Am liebsten hätte sie ihn einfach hier schlafen lassen, aber wenn die Zwillinge nach Hause kamen, sollten sie nicht sehen, daß ihr Vater viel zu betrunken gewesen war, um ins Schlafzimmer zu gelangen.
Durch kräftiges Schütteln bekam sie Ted soweit wach, daß er, auf sie gestützt, den Weg bis zum Ehebett schaffte, wo er, ohne sich ausgezogen zu haben, sofort laut losschnarchte.
Als Janet sich eine Stunde später erschöpft neben ihm ausstreckte, war ihr klar, daß es so nicht weitergehen konnte. Sie hatte auf Jared und Kim gewartet, die jetzt bestimmt schon schliefen, während sie selbst hellwach Teds schweren Atemzügen lauschte.
Irgend etwas mußte sich ändern.
Sie konnte dieses Leben nicht länger ertragen.
Und den Kindern war es erst recht nicht zuzumuten.
4. Kapitel
Jared und Kim wußten, noch bevor sie über Mollys Köpfchen hinweg einen Blick tauschten, daß sie dasselbe dachten: Wie kommt es, daß wir nie zuvor hier waren?
Während der langen Autofahrt nach Südosten hatte weitgehend Schweigen geherrscht – ein beklommenes Schweigen, so als tickte im Wagen eine Zeitbombe, die jederzeit explodieren konnte. Die Zwillinge hatten den Atem angehalten, als ihre Mutter vorschlug, sich ans Steuer zu setzen, damit Ted auf dem Beifahrersitz schlafen konnte, aber der erwartete Wutausbruch war zum Glück ausgeblieben. Er hatte seiner Frau nur einen indignierten Blick zugeworfen und behauptet: »Ich fahre sogar stockbesoffen besser als die meisten Leute, die völlig nüchtern sind!«
Niemand war so dumm gewesen, sich auf sinnlose Diskussionen mit ihm einzulassen, und sogar Molly hatte instinktiv gespürt, daß es vernünftiger war, heute nicht zu quengeln.
Doch als sie jetzt St. Albans erreichten, ließ die Anspannung allmählich nach, nicht nur, weil die Fahrt durch die feuchte Hitze endlich fast vorüber war, sondern hauptsächlich, weil die Szenerie so gar nicht den düsteren Erwartungen der Zwillinge entsprach. Obwohl ihre Eltern sie nie nach St. Albans mitgenommen hatten, wußten sie von klein auf, daß das der Ort war, wo Tante Cora – in ein Sanatorium eingesperrt – lebte, und sie malten sich oft aus, wie es dort aussehen mochte. Wenn sie abends in ihren Betten lagen – bis zum fünften Geburtstag teilten sie sich ein Zimmer –, tuschelten sie miteinander und überboten sich in schaurigen Beschreibungen jenes Sanatoriums: ein häßliches Ziegelgebäude mit vergitterten Fenstern, von einem hohen Zaun umgeben. »Mit Stacheldraht obendrauf«, versicherte Jared seiner Schwester, »damit die Verrückten nicht rüberklettern und uns alle umbringen können!«
»Wetten, daß sie in Käfigen gehalten werden«, schlug Kim vor, aber Jared, der zehn Minuten älter und deshalb viel weiser war, schüttelte den Kopf.
»Die Gefährlichsten müssen in Erdlöchern hausen«, flüsterte er geheimnisvoll, »verschlossen mit schweren Metalldeckeln, die nur zur Seite geschoben werden, um Essen in die Grube zu werfen!«
Und die Stadt St. Albans war in ihrer lebhaften Fantasie genauso düster wie das Sanatorium. »Ich möchte nicht darüber reden«, hatte ihr Vater auf ihre Frage hin gesagt. »Mein Onkel hat meinen Vater rausgeworfen, und der hat nie wieder einen Fuß dorthin gesetzt und den Ort bis zu seinem Tod gehaßt, so wie er auch meinen Onkel und meine Tante gehaßt hat. Er wolle lieber in der Hölle schmoren als in St. Albans wohnen – das waren seine Worte.«
Kein Wunder, daß die Kinder nach diesem grimmigen Kommentar alles Häßliche, was sie jemals gesehen hatten, auf St. Albans projizierten: verwitterte, fensterlose Schuppen mit durchhängenden
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