Kind der Hölle
Wellblechdächern, dicht aneinandergereiht auf dürrem Boden, wo kein einziger Grashalm wuchs; holprige, ungepflasterte Seitenstraßen und eine Hauptstraße mit riesigen Schlaglöchern und einigen schäbigen Läden, von deren Fassaden der Verputz abblätterte, während uralte Waren hinter stark verschmutzten Schaufenstern verstaubten. Diese abschreckende Stadt war wie ausgestorben, denn natürlich hatte man die meisten Einwohner längst ins Sanatorium gesteckt, das – im Zentrum gelegen – wie eine düstere Festung alles ringsum überragte.
Jetzt waren die Zwillinge freudig überrascht, denn St. Albans hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihren kindlichen Horrorvisionen. Die malerisch gelegene Kleinstadt war hinter einer Kurve auf dem Highway scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht, und die breite Zufahrtsstraße mündete am Ortseingang in einen Boulevard. Auf dem Grünstreifen zwischen den Fahrbahnen wuchsen riesige alte Eichen, deren weit ausladende Äste einen Baldachin bildeten, der nicht nur der Straße, sondern auch den gepflegten Vorgärten Schatten spendete. Nach einer halben Meile gelangte man auf einen von Eichen gesäumten Platz mit Musikpavillon, Kinderspielplatz und Picknicktischen. Die hier angesiedelten Häuser mußten weit über hundert Jahre alt sein, waren aber allesamt frisch gestrichen und beherbergten alle möglichen Geschäfte, die durch kunstvoll geschmiedete und auf Hochglanz polierte Aushängeschilder auf sich aufmerksam machten; denn wegen der brütenden Hitze hatte man vernünftigerweise auf große Schaufenster verzichtet. Gemauerte Torbogen führten in sonnige Innenhöfe, und jedes mehrstöckige Gebäude hatte schmiedeeiserne Balkone. Der Einfluß von New Orleans war unübersehbar und allgegenwärtig.
»Es erinnert mich lebhaft an das French Quarter!« rief Jared denn auch hell begeistert.
»Mit dem großen Unterschied, daß hier absolut nichts los ist«, knurrte Ted mürrisch, während sie kurz hinter dem Platz vom Boulevard nach rechts abbogen.
Die Seitenstraßen waren genauso gepflegt wie das Zentrum, und obwohl sich Häuser verschiedener Baustile – französisch, georgianisch und viktorianisch – abwechselten, ergaben sie seltsamerweise ein harmonisches Gesamtbild, vielleicht wegen der moosbewachsenen Bäume in allen Gärten. Überdimensionalen Sonnenschirmen gleich, schützten diese alten Bäume die Menschen vor der Gluthitze, die hier sogar jetzt, im Frühherbst, herrschte.
»Wunderschön!« flüsterte Kim ihrem Bruder zu.
Zwei Blocks weiter bog Ted nach links ab, und statt der Eichen waren jetzt überall Weiden zu sehen, die ihre Äste anmutig der Erde entgegenstreckten. Gleich darauf entdeckte Kim inmitten einer ausgedehnten Rasenfläche ein Schild:
Wie das Städtchen, so war auch das Sanatorium ganz anders, als Jared und sie es sich vorgestellt hatten. Das zweistöckige Hauptgebäude aus weißem Kalkstein hatte eine breite Veranda mit fünf korinthischen Säulen, die das Dach stützten, und die einstöckigen Seitenflügel bestanden ebenfalls aus weißem Sandstein. Die Fenster waren nicht vergittert und hatten graue Holzläden, die mit schmiedeeisenen Haken offengehalten wurden. Violette, rote und rosa Bougainvillea rankte sich an den Flügeln empor, und ein niedriger schmiedeeiserner Zaun umgab den weiten Rasen, auf dem zwei ungewöhnlich große Weiden wuchsen, denen das Sanatorium vermutlich seinen Namen verdankte.
Ted stellte das Auto auf dem Parkplatz vor den Verandastufen ab. Doch während seine Frau und die Kinder neugierig ausstiegen und nach dem langen Sitzen ihre Glieder in der Vormittagssonne streckten, blieb er sitzen und starrte das Gebäude mit finsterer Miene an, so als lauerten dort unbekannte Gefahren.
Janet warf den Zwillingen einen nervösen Blick zu. »Sie ist eine harmlose alte Frau, Ted«, sagte sie beruhigend, »und sie liegt im Sterben. Einen kurzen Abschiedsbesuch wirst du doch wohl noch verkraften können.«
Teds Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, aber er stieg endlich aus, ging mit seiner Familie die Verandastufen hinauf und stieß die Eingangstür auf.
In der Empfangshalle gab es eine gemütliche Sitzecke mit chintzbezogenen Polsterstühlen, die um einen großen Couchtisch gruppiert waren. Eine grauhaarige Frau – das kleine weiße Namensschild an ihrem hellblauen Kleid wies sie als Beatrice LeBecque aus – schaute vom Computer auf, und ihr freundliches Willkommenslächeln machte einer mitfühlenden Miene Platz, als sie Ted
Weitere Kostenlose Bücher