Kind der Hölle
zerbrochenen Fensterscheiben, fehlenden Ziegeln, abblätternder Farbe und wild wucherndem Unkraut, daß das Anwesen so deprimierend wirkte. Alle Conways spürten die düstere Melancholie, die wie eine dunkle Wolke über dem Haus hing.
Es war Molly, die ihrem Unbehagen schließlich Ausdruck verlieht. »Will heim!« jammerte sie und umklammerte mit ihren kleinen Fingern die Hand ihrer Mutter.
Janet nahm sie rasch auf den Arm. »Bald«, versprach sie ihrer Jüngsten. »Wir müssen uns vorher nur noch ein bißchen umschauen. Okay?«
Anstelle einer Antwort schob Molly einen Daumen in den Mund und lutschte hingebungsvoll daran. Ausnahmsweise ließ Janet sie gewähren.
»Ich möchte wissen, wie es im Innern aussieht«, sagte Ted. Mühsam kämpfte er sich durch das Gestrüpp zur breiten vorderen Veranda durch. Verwitterte und abgebrochene Reste der pfefferkuchenartigen Holzverzierungen, die einst die Einfassung und die Pfosten geschmückt hatten, erinnerten jetzt an scharfe Zahnstümpfe im weit aufgerissenen Maul eines sterbenden Tieres.
»Ist es nicht gefährlich, auch nur einen Fuß auf die Veranda zu setzen?« fragte Janet, die ihrem Mann zögernd gefolgt war, besorgt. »Sie könnte einstürzen.«
»Das passiert bestimmt nicht«, versicherte Ted. »Früher hat man beim Bauen großen Wert auf Stabilität und Haltbarkeit gelegt, und der Boden scheint aus Eiche zu sein.« Er blieb stehen und musterte das Haus aus nächster Nähe. »Wenn man bedenkt, daß es 125 Jahre alt und seit 40 Jahren leer steht, ist es eigentlich in keiner allzu schlechten Verfassung.«
»In diesen 40 Jahren hat es wohl auch kein Mensch mehr betreten!« stellte Janet fest.
Ted zwinkerte seinem Sohn zu. »Was meinst du? Bist du mit von der Partie?«
Grinsend riß Jared einige besonders hinderliche Kletterpflanzen vom Geländer und von den Stufen ab und testete, ob das alte Holz morsch war. »Dad hat recht«, rief er seiner Mutter und seinen Schwestern zu. »Alles in bester Ordnung!«
Bruce Wilcox hatte Ted einen Schlüsselbund ausgehändigt, und der dritte Schlüssel, den er ausprobierte, paßte ins Schloß, ließ sich aber erst nach einigen Versuchen drehen. Langsam schob er die schwere, getäfelte Eichentür mit den kunstvollen Schnitzereien auf, wobei die vier Messingangeln laut quietschten.
Von der geräumigen Eingangshalle führten gewölbte Flügeltüren zur Rechten und zur Linken in zwei riesige Räume. Ted vermutete, daß es sich um Wohnzimmer und Empfangssalon handelte. Eine elegante Treppe im Hintergrund der Halle verzweigte sich mit dem ersten Absatz und bot Zugang zu den beiden symmetrischen Flügeln einer Galerie mit Mahagonigeländer, von der aus man in die Zimmer im ersten Stock gelangen konnte. Ein kostbarer Kronleuchter hing von der kuppelförmigen Hallendecke herab, und man konnte sich lebhaft vorstellen, wie prächtig er gefunkelt haben mußte, als die Kristallplättchen noch nicht mit einer dicken Schmutzschicht überzogen waren. Flankiert war die Treppe von zwei langen Korridoren mit vielen Türen.
In der nächsten halben Stunde erkundeten die Conways das ganze Erdgeschoß. Es gab ein Eßzimmer, in dem ein Tisch für 24 Personen mühelos Platz hätte, eine Bibliothek, eine Küche mit Speisekammer und kleiner Veranda sowie mehrere kleinere Räume, in denen wahrscheinlich musiziert, genäht und Karten gespielt worden war. An die Nordseite des Hauses hatte man einen Wintergarten mit drei Glaswänden und riesiger Glaskuppel angebaut. Das Sonnenlicht fiel nahezu ungebrochen ein, denn wie durch ein Wunder wiesen nur drei Scheiben Sprünge auf.
Die Familie setzte ihren Streifzug in der ersten Etage fort, und während ihre Eltern sich einige Zimmer direkt über der Bibliothek ansahen, bekam Kim plötzlich eine Gänsehaut, so als würde ein großes Insekt über ihren Nacken kriechen. Vor Schreck zuckte sie zusammen. Sie schlug unwillkürlich danach, und das unangenehme Gefühl verschwand.
Ans Mahagonigeländer gelehnt, wartete sie, bis ihr Herzklopfen nachließ. Sie hielt dabei nach Jared Ausschau, der bis vor wenigen Minuten noch bei ihr gewesen war.
Er schien sich in Luft aufgelöst zu haben.
Dann sah sie ganz in der Nähe eine halb offene Tür und erriet, daß ihr Bruder in jenes Zimmer gegangen war.
Sie wollte ihm folgen. Und spürte es wieder. Diesmal war es ein eisiger Schauer, der ihren ganzen Körper überlief und ihr den Atem raubte. Sie versuchte, nach Jared zu rufen, brachte aber keinen Ton hervor, denn die
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