Kind der Nacht
auf. Dieses ständige Auf und Ab! Wie hatte Sie sich angestrengt, Andrés Vertrauen zu gewinnen, nur um es wieder und wieder erschüttert zu sehen. Und nun die Komplikationen mit Rene und ihren diversen Beweggründen. Das war alles zu viel ... »Es reicht!«, brüllte sie. »Rene, ich werde das Ritual vollziehen! Das hat nichts mit Ihnen zu tun. Es geht um mein Leben beziehungsweise meinen Tod. Wenn Sie bleiben wollen, schön, wenn Sie gehen wollen, auch gut! Und wenn Sie verwandelt werden wollen, hat das ebenfalls nichts mit mir zu tun. Ich will nur meine Ruhe haben. Ihr alle, lasst mich einfach in Ruhe!«
Sie rannte aus dem Zimmer und die Treppe hinauf in Gerlindes Atelier, wo sie sich auf den Boden setzte und hemmungslos weinte. Vor lauter Anspannung hatte sie rasende Kopfschmerzen. Die Tränen lösten die Spannung etwas, zugleich jedoch wurde ihr das gesamte Ausmaß ihrer schrecklichen Angst klar. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was geschehen würde, alles entzog sich ihrer Kontrolle. Ihr Leben hing an einem seidenen Faden, nämlich dem Vertrauen zwischen ihr und André, einem Faden, der immer wieder riss. Konnte sie ihn denn endlos neu zusammenknüpfen? Was, wenn er sich im entschei denden Moment entzweite? Was, wenn sie durchdrehte?
Ihr wurde ja jetzt schon alles zu viel, und das Ritual hatte noch nicht einmal begonnen. Und nun war auch noch Andrés Misstrauen zurückgekehrt und machte alles nur noch schwieriger, als es ohnehin bereits war. Möglicherweise hatte Rene ja Recht. Vielleicht hatte sie sich ja nur eingeredet, dass sie all dies wollte, weil sie wusste, dass ihr keine andere Wahl blieb. Sie empfand schreckliche Angst bei dem Gedanken, Andrés dritter Fehlschlag zu werden.
Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter und fuhr zusammen. Jeanette ging vor ihr in die Hocke. »Sie sind bereit!«
»Aber ich nicht. Und ich weiß nicht, ob ich es jemals sein werde.«
Jeanette setzte sich neben Carol auf den Boden. Ihre bleiche Haut war unglaublich glatt, wie kühler makelloser Alabaster. Ihre Augen, zwei hellgrüne Ozeane, funkelten im Licht. Ihr Haar war so blond, beinahe weiß, dass es glänzte. Carol fragte sich, wie Jeanette wohl vorher ausgesehen hatte und ob sie selbst auch so eine atemberaubende Wirkung auf Sterbliche haben würde, ob sie sie auch derart in ihren Bann schlagen würde, genug jedenfalls, dass sie ihr bereitwillig ihr Blut gaben!
»Weißt du«, sagte Jeanette, »ich bin nicht so alt wie einige der anderen hier - wäre ich noch sterblich, ging ich jetzt auf die siebzig zu. Das ist nur eine Lebensspanne, aber ich glaube, ich habe trotzdem einiges gelernt, zum Beispiel, dass niemand jemals bereit ist für das Leben.«
»Oder den Tod«, sagte Carol.
»Ob nun sterblich oder unsterblich, die meisten von uns sind auf die wahrhaft großen Momente nicht wirklich vorbereitet. Diese Momente sind wie Perlen, die wir auf ein Halsband reihen, während die Zeit vergeht. Niemand weiß, wie viele Perlen es sein werden oder wie lang diese Kette aus unschätzbaren Erfahrungen letztendlich sein wird. Wir mögen es noch so sehr begehren, und dennoch wehren wir uns dagegen. Ich weiß, dass du glaubst, all dies entziehe sich deiner Kontrolle. Und in mancherlei Hinsicht mag das ja auch zutreffen. Aber Carol, wie jeder andere hier auch, der dies durchlaufen hat, kannst du nur dein Bestes geben. Mehr kannst du nicht tun. Irgendwann musst du einfach das Vertrauen aufbringen, dass dies genug ist.«
Carol blickte Jeanette in die Augen. In ihnen lag ein Versprechen, dass der Schmerz vergehen würde, dass es etwas gab, was ihn für immer von ihr nehmen würde. Sie empfand das Verlangen, sich darin zu verlieren. Aber tief in diesen grünen Teichen lag auch eine Vertrautheit, die allein für sich genommen schon Trost gewährte. »Ich kann nicht sagen, warum, aber irgendwie habe ich immer das Gefühl, dass du weit mehr als alle anderen weißt, wie es in mir aussieht.«
»Ich war einmal in einer ähnlichen Lage, aber ich war allein. Du dagegen hast Freunde.« Jeanette ergriff ihre Hand.
Carol schüttelte den Kopf. »Freunde, die mich begraben können.«
»Wir müssen gehen.«
Die Vampirin führte sie hinab ins zweite Geschoss, wo Gerlinde bereits in der Diele wartete. Zu dritt betraten sie das Gästezimmer. Im angrenzenden Badezimmer war Chloe dabei, ein Bad einzulassen. Morianna saß am Fenster und betrachtete den immer
Weitere Kostenlose Bücher