Kind der Nacht
hinausschießen, aber Carol fand den Gedanken, ein Killer zu werden, der auf Menschenopfer angewiesen war, beinahe jenseits ihres Vorstellungsvermögens. Natürlich töteten die meisten von ihnen nicht. Doch André hatte bereits jemanden umgebracht. Und unabhängig davon, was sie nun für ihn empfand, traute sie ihm nicht zu, dass er in der Lage war, ihr das Blut auszusaugen, ohne sie dabei zu töten. Er bedeutete ihr etwas. In gewisser Weise liebte sie ihn. Nein, das stimmte nicht ganz, nun liebte sie ihn wirklich, allem, was er war, zum Trotz. Sie vermochte sich das ständige extreme Auf und Ab ihrer Gefühle nicht zu erklären. Aber sie liebte ihn. Und sie glaubte, dass er sie ebenfalls liebte. Doch sie war sich nicht sicher, ob er in der Lage sein würde, sich zu beherrschen. Sie glaubte nicht so recht daran, dass sie dies überleben würde.
André hatte ihr erzählt, wie es bei den anderen Malen gewesen war. Beide Frauen hatten um ihr Leben gefleht; dies schien die Schwachstelle zu sein. Und Andrés Vater hatte seine Frau auf dieselbe Weise und offensichtlich auch aus demselben Grund getötet. Ihr Flehen hatte seine Wut nur angestachelt. Aber konnte es denn so einfach sein? Carol wusste, dass sie, ganz gleich, was passierte, nicht um ihr Leben betteln würde. Zumindest hoffte sie das. Aber da musste doch mehr dahinterstecken! Was versuchte Morianna ihr zu sagen? Oder sagte sie überhaupt etwas anderes, als dass Carol Stärke und Durch haltevermögen zeigen sollte, all die Dinge, die sie ihr ständig vorbeteten? Warum muss alles denn immer nur von mir kommen?, dachte sie missmutig. Warum kann André sich nicht auch einmal anstrengen? Aber vielleicht muss er ja bereits den Löwenanteil meistern, indem er versucht, sein Verlangen zu unterdrücken, das ihn jedes Mal die Kontrolle verlieren lässt. Am schlimmsten war für Carol jedoch der Gedanke, dass Michael anwesend sein würde. Noch dazu an seinem Geburtstag! Wie mochte der Ausgang des Rituals sich auf
seine Entscheidung auswirken? Wenn André mich tötet, dachte sie, vor den Augen unseres Sohnes ... Das Bild, das ihr durch den Kopf schoss, war zu grausig, um es weiterzuverfolgen.
Chloe, Gerlinde und Jeanette erschienen im Türrahmen. Jede hielt ein großes Badetuch in der Hand. Carol lachte. »Ihr seht aus wie die drei Grazien.«
Sie erhob sich aus der Wanne und war sogleich von weichem weißem Frottee umhüllt. Sie trockneten sie ab, tupften auch noch die letzten angenehm duftenden Tropfen auf, bis sie vollkommen trocken war. Gerlinde führte sie, noch immer nackt, an den Schminktisch und rubbelte ihr das Haar trocken. Auf dem Boden zu Moriannas Füßen saß Jeanettes Tochter; die ältere Frau streichelte ihr übers Haar. Rene beobachtete alles. Sie war ungewöhnlich still und konzentrierte sich angestrengt. Carol fragte sich, ob sie sie hypnotisiert hatten.
»Susan und Claude waren ein paar Tage in Vancouver und sind gerade erst zurückgekommen«, erklärte Jeanette. »Julien und ich hielten es für besser, wenn sie hier sind. Und sie wollen es auch.«
Wie am Abend zuvor lackierte Jeanette ihr die Nägel, und Gerlinde machte ihr die Haare zurecht. Nur dass sie sie ihr diesmal nicht schnitt. Stattdessen massierte sie ihr eine weiße Creme in die dunklen Strähnen, bis diese glänzten, und flocht ihr dann Ketten aus Rosenblättern ins Haar, die an der zähflüssigen Creme haften blieben. Das Gesicht schminkten sie ihr nicht.
Während sie derart beschäftigt waren, begann Morianna zu sprechen.
»Heute Nacht nimmt der Mond noch zu. Morgen wird Luna ihren Zyklus beendet haben und voll sein. Am Sonntag nimmt sie bereits wieder ab. Der Mond steht für die Phasen im Leben einer Frau, die Phasen, die du bei deiner Verwandlung durchlaufen wirst. Heute Abend bist du Kore, das junge Mädchen, das der Welt offen gegenüber steht und glücklich auf einer Wiese Blumen pflückt, rein an Körper und Geist - wie Persephone in ihrer Unschuld und Schönheit oder Artemis, die jungfräuliche Jägerin.«
Im Spiegel sah Carol zu, wie Morianna Susan das Haar streichelte. Auf dem Gesicht des jungen Mädchens lag ein Ausdruck absoluten Vertrauens und völliger Unschuld.
»Morgen wirst du die Große Mutter werden, Demeter, Hera, die Schwangere, die die Frucht des Lebens in sich trägt, und in deinem Schoß wird das gesamte Universum enthalten sein. In der dritten Nacht bist du Hekate, die unheimliche alte Hexe,
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