Kind der Nacht
waren ihr noch geblieben. Sie würde lange warten müssen, aber daran ließ sich nun mal nichts ändern.
Weil sie so oft musste, suchte sie sich einen Platz in der Nähe der Damentoilette. Sie versuchte zu schlafen, aber die Sitze waren zu unbequem, und der Rücken tat ihr weh. Schließlich gelang es ihr doch noch einzunicken, und sie träumte ...
Vier Wölfe kreisen sie ein. Angst! Ein großer Wolf, die Kiefer weit aufgerissen, mit scharfen Zähnen. Graue Augen, die Pupillen winzige Punkte. Von diesen Augen geht ein hypnotischer Zwang aus. Sie dreht sich einmal um die eigene Achse, sucht nach einem Ausweg. Ihr ist schwindlig. Ein Flugzeug erscheint. Sie will an Bord gehen, aber die Stufen, die sie hinaufsteigt, führen nach unten, unter die Erde. Sie wendet sich um, müht sich ab, wieder nach oben zu rennen; aber die Stufen verwandeln sich in eine Rampe, die sie hinabrutscht. Schnell hinabrutscht, schneller! Sie stürzt dem Dunkel entgegen, direkt in den Rachen des Wolfes mit den grauen Augen!
Carol schreckte hoch. Sie war schweißgebadet, und das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie warf einen Blick auf die Uhr, versuchte sich zu orientieren. Acht Uhr abends. Sie wurde über den Lautsprecher ausgerufen.
14
»Ich bin Carol Robins«, sagte sie der Frau an der Information, die gerade mit zwei Telefonaten und drei wutentbrannten Franzosen beschäftigt war. Die Frau blickte Carol einen Moment lang verständnislos an, dann wies sie auf eine Tür.
»Handelt es sich um einen Anruf?«, wollte Carol wissen. Wenn es nämlich keiner ist, dachte sie sich, werde ich da bestimmt nicht reingehen. Sie wusste, dass es ein Risiko war, den Flug unter ihrem richtigen Namen zu buchen, aber ohne Ausweis in die Staaten zu gelangen, war auch so schon schwierig genug. Einen falschen Namen zu benutzen, hätte nur endlose Erklärungen nach sich gezogen.
Die Frau bemühte sich, freundlich zu einem der Geschäftsmänner zu sein, der sie anbrüllte. Ein drittes Telefon läutete. »Gibt es einen Anruf für mich?«, unterbrach Carol sie.
Die Frau sah sie böse an und deutete mit dem Finger auf die Tür. »Da drin. Mary Skiving.«
Carol ging zu der Tür. Sie öffnete sie und trat ein. Gerlinde stand, die Arme vor der Brust verschränkt, am Fenster. »Das war kein kluger Schachzug, Kleines!«
Carol biss sich auf die Unterlippe und ließ die Tür offen stehen. »Wie hast du mich gefunden?«
»Nichts leichter als das! Erinnerst du dich an den Bullen, den du nach dem Weg nach Paris gefragt hast? Er hat mit seinem Inspektor gesprochen und, na ja ...«
Carol war klar, dass es sich nur um Inspektor LePage handeln konnte.
»Wir wussten, dass du pleite bist. Also musstest du dir von irgendjemandem Geld überweisen lassen. Ich habe den Typ im Telegrafenbüro so lange bequatscht, bis er mir erzählte, wer dir die Kohle geschickt hat. Dann habe ich den Flughafen angerufen und herausgefunden, dass du für 22.30 Uhr gebucht hast. Anschließend bin ich direkt hergeflogen.« Sie schüttelte den Kopf, und Carol hatte den Eindruck, dass sie traurig aussah. »Vertrauen lässt sich nicht leicht aufbauen, und das leiseste Lüftchen genügt, es zu erschüttern.«
»Gerlinde, ich hatte nicht vor, dich zu verletzen oder zu hintergehen.« Sie machte ein paar Schritte in den Raum. »Aber ich bringe das nicht. Ich kann nicht zurückkommen. Tut mir Leid!«
»Nicht halb so Leid, wie es dir nachher noch tun wird!« Als sie Andrés Stimme hörte, wandte sie sich um. Er schlug die Tür zu und kam langsam auf sie zu. Seine Augen sahen aus wie die Augen des Wolfes, von dem sie soeben geträumt hatte. Sie wirkten hypnotisch. Sie fühlte sich wie ein Tier, das geduldig, systematisch in die Falle gelockt worden war, und nun setzte der Jäger zum Todesstoß an. Sein Körper war so angespannt, dass es aussah, als könne er sich kaum noch beherrschen. Sie hatte noch nie ein so wütendes Gesicht gesehen. Seine grauen Augen waren voller Hass und wirkten, als seien sie aus Stahl. Seine Lippen waren leicht geöffnet und entblößten die Spitzen bedrohlicher Fangzähne. Carol war entsetzt von dem Anblick, zugleich jedoch unfähig, irgendetwas zu ihrer Verteidigung zu unternehmen.
»Salope!« Er schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht, so fest, dass sie zu Boden sank.
»Hey, langsam, André! Du wirst sie noch umbringen oder dem Kind etwas tun. Reiß dich zusammen!«
»Halt’s Maul! Ich weiß, wie man mit so was umgeht, du
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