Kind der Nacht
das Jahr, in dem sie sich von allem fern gehalten hatte. Dies war sein Werk. Sie wurde verrückt dabei, und ihr war klar, dass sie etwas unternehmen musste, um sich zu retten.
Am fünften Abend, nachdem sie ins Chateau zurückgebracht worden war, fesselte er ihr nur eine Hand ans Bett. Das bedeutete, dass sie sich setzen und auch aufstehen konnte. Sie wertete dies als Zeichen. Er stand in der Tür, die Hand auf dem Knauf.
»Ich glaube, das alles schadet dem Baby. Ich brauche Bewegung. Könnten wir nicht eine Abmachung treffen?« Sie versuchte, ruhig und vernünftig zu klingen, etwa so, wie ein Rechtsanwalt einen Tatbestand konstatieren würde, ohne Emotionen, die ihn berührten. Es waren die ersten Worte, die sie an André richtete.
Er drehte sich um. In diesem Moment wurde ihr klar, dass sie entweder etwas Falsches gesagt hatte oder dass es ein Fehler gewesen war, ihn überhaupt anzusprechen. Sein Blick wurde hart, und die Farbe wich aus seinem Gesicht. Seine Züge wirkten gespannt, die Knochen traten hervor - die Fratze eines Dämons. Ein tiefes Knurren, wie von einem wilden Tier, entrang sich seiner Kehle. Als Carol seine Zähne sah, schrie sie gellend auf.
Blitzartig war er über ihr und würgte sie. Sie bemühte sich, den stahlharten Griff um ihre Luftröhre zu lösen. Doch ihr Schrei erstarb. Sie konnte nur noch wild um sich schlagen und rang verzweifelt um Atem.
Als sie ihn endlich von ihr wegzerrten, sog sie gierig die Luft ein. Ihre Kehle fühlte sich an, als habe er sie zerquetscht. Zu dritt mussten sie ihn festhalten. Er wehrte sich heftig und wollte erneut auf sie losgehen, das erkannte sie deutlich, ein entfesselter Dämon, wild entschlossen, sie zu töten.
Aus Carols Mund drangen entsetzliche Laute, eine Mischung aus einem Kreischen und schrillem Geschrei. Es war, als veranstalte jemand anders diesen Lärm, und nicht sie. Sie entleerte ihren Darm ins Bett, und zu allem Überfluss stieß sie auch noch das Tablett mit dem Essen um.
»Mein Gott, ihr Hals!«, hörte sie Gerlinde sagen.
»Bring mir warmes Wasser«, befahl Chloe. »Und ruf besser auch gleich den Arzt an. Karl, du schaffst André hier raus!«
Die Frauen bemühten sich eine halbe Stunde lang um Carol, während der sie sich in Krämpfen wand und ihr der Schaum vor den Mund trat. Als der Doktor eintraf, gab er ihr eine Spritze, die sie fast augenblicklich außer Gefecht setzte. Sie hörte Chloe noch fragen: »Le bébé?«, doch die Antwort bekam sie schon nicht mehr mit.
Als Carol erwachte, fühlte sie sich wie tot. Oder vielmehr, als sei etwas in ihr abgestorben. Sie lag im Bett, sah und hörte, was vor sich ging, doch eine unsichtbare Barriere trennte sie von allem. Sie schwebte irgendwo direkt über ihrem Körper. Es war nicht unangenehm, und sie beschloss, da zu bleiben, wo sie gerade war.
Nacht für Nacht saßen Chloe und Gerlinde und manchmal auch Karl an ihrem Bett. André sah sie nun nicht mehr. Die drei verabreichten ihr Injektionen, machten sie sauber, redeten ihr zu, versuchten, sie zu füttern und zum Aufstehen zu bewegen und unterhielten sich besorgt über ihren Zustand. Sie gaben sich Mühe, sie aus der Reserve zu
locken, aber Carol zeigte keinerlei Reaktion.
»Carol, versuche heute Abend doch einmal, ob du aufstehen kannst!«
Sie starrte Chloe an, die sie wie durch einen Schleier wahrnahm. Ihr Gesicht wirkte sanft, ihre Stimme besorgt. Doch das war Carol egal.
Hinter Chloe tauchte Gerlinde auf. »Na, komm schon, Kleines! Du bist okay! Jetzt komm endlich da raus. Wir wollen dir doch nur helfen.« Danach sagte sie zu Chloe: »Ich glaube, es ist was Ernstes.«
Carol wollte nicht kauen. Sie hängten ihr Nährlösungen an, die ihr direkt in die Venen liefen, und ernährten sie zwangsweise. Dazu bogen sie ihr den Kopf in den Nacken, steckten ihr einen großen Trichter in den Mund und schoben pürierte Speisen, wie Babynahrung, hindurch, ungefähr so, wie man eine Gans mästet, damit sie eine Fettleber bekommt. Ihre Laken mussten ständig gewechselt werden, weil sie sich weigerte, sich zu bewegen. Obwohl sie nicht länger ans Bett gekettet war, ging sie noch nicht einmal auf die Toilette. Sie sah ihnen aus großer Ferne zu, von einem Ort aus, an dem es keine Bindungen gab, keine Gefühle, weder Sorgen noch Ängste, wo nichts eine Rolle spielte. Sie empfand keinerlei Bedürfnisse und auch kein Bedauern. Ihr fehlte nichts. Sie trieb in einer Vorhölle dahin und wusste nicht,
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