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Kind der Nacht

Kind der Nacht

Titel: Kind der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kilpatrick
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Umhängetasche nach und entdeckte ihren Pass. Wenigstens ist mir das Gedächtnis nicht komplett abhanden gekommen, dachte sie. Sie erkannte ihren Namen wieder und ihr Foto nebst ihrer Heimatadresse. Der Datumsstempel im Innern deutete darauf hin, dass sie tatsächlich in Paris gewesen war - aber sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals dort gewesen zu sein. Ein rascher Blick auf eine Tageszeitung sagte ihr, dass seit ihrer angeblichen Ankunft in Paris etwa neun Monate vergangen waren. Neun  Monate. Zeit genug, ein Kind zu bekommen. Warum denke ich aus gerechnet so etwas?, fragte sie sich, und mit einem Mal traten ihr  ohne ersichtlichen Grund Tränen in die Augen und liefen ihr über die  Wangen.
    »Schätzchen, ist alles in Ordnung?«
    Eine alte Frau mit sanftem Blick beugte sich über sie.
    »Ja! Ja, alles in Ordnung«, schluchzte Carol. »Ich weiß bloß nicht, wo ich bin oder wie ich hierher gekommen bin.«
    »Na ja, Sie sind in Portsmouth, wo sonst? Im Fährhafen. Sie sind mit dem Schiff da drüben angekommen - ich war auch an Bord.«
    Die Frau reichte Carol ein Papiertaschentuch, mit dem sie sich die Augen tupfte. »Ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich an Bord gekommen bin.«
    »Das ist auch kein Wunder. Sie waren ja so müde, dass Sie sich kaum auf den Beinen halten konnten. Ihr Freund hat Ihnen an Bord geholfen, ja, das hat er. Und er ist bei Ihnen sitzen geblieben, bis das Schiff abgelegt hat.«
    »Mein Freund?«
    »Ja. Dem Aussehen nach ein Franzose. Sah nicht schlecht aus. Er und das Paar mit dem Baby.«
    Carol schüttelte heftig den Kopf, wie um etwas zu verneinen, nur was? Sie brach in Tränen aus. »Ich kann mich an nichts davon erinnern. Ich weiß noch nicht einmal, warum ich überhaupt weine.«
    Bis die Leute vom Wachdienst endlich eintrafen, hatte Carol völlig die Fassung verloren. Ein Rettungswagen brachte sie ins örtliche Krankenhaus, wo ihr fast eine Woche lang ununterbrochen Lithiumkarbonat in die Adern gepumpt wurde. Verschiedene Leute stellten ihr jede Menge Fragen: Wo sie das Geld herhatte; ob sie kürzlich ein Kind geboren habe; ob sie einen Verwandten in den USA habe, den man informieren könne. Auf die ersten beiden Fragen wusste sie nichts zu antworten, bei der letzten sagte sie ihnen, sie sollten Rob anrufen.
    Während ihrer zweiten Woche im Krankenhaus hob sich der Nebel, der sie umgab, weit genug, dass sie endlich verstand, wo sie sich befand und weshalb man sie dorthin gebracht hatte.
    Eines Morgens fand sie sich vor dem Schreibtisch eines Psychiaters wieder, der sich ihr als Dr. Stanton vorstellte - sein Namensschild bestätigte dies. »Offensichtlich«, sagte er, »haben Sie vor Kurzem ein  Kind geboren. Aber Sie können sich nicht daran erinnern. Wie kommt  das?«
    »Ich weiß nichts davon, ein Kind zur Welt gebracht zu haben«, erklärte sie ihm.
    Er sah sie ernst an. »Sie sind untersucht worden, Miss Robins. Es besteht kein Zweifel daran.«
    Carol zitterten die Hände, bis sie sie ineinander verschränkte.
    »Wie es aussieht, wurde das Kind unehelich geboren.Vielleicht war es ja auch eine Totgeburt, oder es starb, kurz nachdem es zur Welt kam?«
    Carol fühlte Panik in sich aufsteigen. »Ich... ich weiß nichts davon.«
    »Haben Sie das Kind verkauft?«
    Sie war zu entsetzt, um etwas darauf zu erwidern. »Haben Sie Rob schon angerufen? Meinen Ex-Mann?«
    »Ja, letzte Woche. Ihnen ist natürlich bekannt, dass er im vergangenen Mai gestorben ist?«
    Carol blickte ihn sprachlos an. »Rob ist tot? Nein, das habe ich nicht gewusst.«
    »Ein Mister Phillip Mullins versicherte mir, er habe Ihnen einen Brief geschrieben - via American Express, in dem er Ihnen mitteilte, dass Ihr Mann gestorben ist.«
    Carol erwiderte nichts darauf.
    »Er hat mir ebenfalls gesagt, dass Sie ihn vor vier Monaten aus Paris anriefen und er Ihnen dieselbe Mitteilung machte. Und dass Sie verzweifelt klangen.«
    »Ich kann mich nicht daran erinnern.«
    »Unangenehme Erinnerungen zu verdrängen, ist ein ganz gewöhnliches Phänomen, vor allem wenn Schuld dabei eine Rolle spielt. Man hat Sie mit einer ziemlich großen Summe Bargeld aufgegriffen - neunzigtausend US-Dollar oder so. Das sind ungefähr vierzigtausend Pfund.«
    Carol wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern. Es war so wie damals, als sie beim Kieferchirurgen die Betäubung bekommen hatte. Eben noch hatte sie von zehn rückwärts gezählt

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