Kind der Nacht
klar.
Vor einem Jahr hatten sie festgestellt, dass sie das HI-Virus tatsächlich in sich trug. Vielleicht würde sie niemals Aids bekommen, hatten sie ihr gesagt, aber sicher könne man natürlich nicht sein. Schon dies allein machte den Faktor Zeit für sie bedeutsam. Doch da war noch etwas anderes, es gab noch einen weiteren Grund, weshalb der Zeitfaktor ihr wichtig schien. Sie konnte es nicht genau definieren, aber irgendetwas trieb sie vorwärts. In ihren Sitzungen arbeitete Carol intensiv mit, um den soliden Granit zu durchbrechen, der alles umgab, was ihr in Frankreich in jenem Haus am Atlantik zugestoßen oder zugefügt worden war von einem Mann, von dem sie nichts mehr wusste - bis auf die Tatsache, dass sie eine Todesangst vor ihm hatte. Eines wusste sie jedoch mit Sicherheit, denn ein halbes Dutzend Ärzte hatte sie untersucht, und alle waren zu dem gleichen Ergebnis gelangt: Während ihres Aufenthalts in Frankreich hatte sie ein Kind zur Welt gebracht. Und sie selbst konnte dies ebenfalls bestätigen, denn die Erinnerung daran war zurückgekehrt. Aber wo befand sich dieses Kind jetzt?
»Ich fürchte, für heute ist unsere Zeit um«, sagte Rene.
Carol putzte sich die Nase und setzte sich auf. »Vielen Dank, Rene. Ich glaube, wir sind einen kleinen Schritt weitergekommen.«
»Einen großen, würde ich sagen.«
Carol ging zu dem Kleiderständer neben der Tür und machte sich daran, ihre Stiefel anzuziehen.
»Wenn Sie noch einen Moment warten, fahre ich mit Ihnen runter.«
Sie nahmen den Fahrstuhl, um ins Erdgeschoss zu gelangen. Rene, eine elegante Frau Anfang fünfzig mit blondem Haar und schlanken Hüften, gab sich völlig ungezwungen, wofür Carol sie bewunderte, ja beneidete. Sie war eine gepflegte Erscheinung und schien ein glückliches und ausgefülltes Leben zu führen.
»Nun, ich muss los. Ich gehe heute Abend mit den >Mädels< essen«, sagte Rene. »Alte College-Freundinnen, und ich meine wirklich >alt<. Gott, wie die Zeit vergeht! Einmal im Jahr treffen wir uns, und dann essen und trinken wir viel zu viel.« Sie hielt eine lange braune Papiertüte in die Höhe. »Und trotzdem kommen wir nie dazu, alles zu bereden, was wir möchten. Um ehrlich zu sein, man sieht ihnen ihr Alter durchaus an. Mir selbstverständlich nicht«, lachte sie und zwinkerte Carol zu, dabei sah man die Lachfalten um ihre Augen.
»Was ist eigentlich in der Tüte?«, wollte Carol wissen.
»Wein.« Rene blickte sie an. »Warum?«
»Ich weiß nicht. Was für einer?«
»Rotwein.« Sie öffnete die Tüte, nahm die Flasche heraus, las, was auf dem Etikett stand, und drehte es so, dass Carol es sehen konnte.
Es war, als würde sie ein Schwall heiße Luft treffen. Beinahe hätte es sie von den Füßen gerissen; sie sank gegen die verspiegelte Rückwand des Fahrstuhls.
»Carol, was ist mit Ihnen?«
»Das ist der Ort, an dem das Haus steht!«
Rene warf erneut einen Blick auf das Etikett. »Bordeaux? Sind Sie sicher?«
»Absolut sicher!«
20
Sechs Monate, nachdem Carol entdeckte, wo in Frankreich man sie gefangen gehalten hatte, traten zunehmend rascher auch weitere Erinnerungen zutage, darunter eine Straße, die fast schon ein kreisrunder Platz war; das Medoc Royal, ein Hotel, in dem sie vielleicht übernachtet hatte; und etwas, was mit einem alten Mann zu tun hatte, der ermordet worden war, nachts, und sehr viel Blut. Als das Emerald Theatre für den gesamten Monat August seine Pforten schloss, machte Carol, mit Renes Zustimmung, zum ersten Mal seit acht Jahren wieder Urlaub. Sie fuhr zurück nach Bordeaux.
Wie sie so durch die Straßen der Innenstadt und den Hafen schlenderte, hatte sie beinahe den Eindruck, manches wiederzuerkennen, Kleinigkeiten nur, die sie quälten, wie einen ein Mückenstich quälen mag. Und als sie versuchte, die Erinnerungsbruchstücke festzuhalten, wuchsen sie an und wurden deutlicher. Vieles kam ihr bekannt vor, ständig hatte sie das Gefühl, dies alles schon einmal gesehen zu haben.
Sie stieg im Medoc Royal ab. Natürlich gab es keine Aufzeichnungen von vor acht Jahren, und die meisten der Mitarbeiter hatten gewechselt, selbstverständlich diejenigen, mit denen Carol zu tun gehabt hatte.
Zu Hause in Philadelphia hatte sie Französisch gelernt, wohl weil sie geahnt hatte, dass sie eines Tages in dieses Land zurückkehren würde. Nun kam es ihr gelegen, auch wenn sie die Sprache weit besser sprechen und lesen als verstehen konnte.
Bordeaux lag
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