Kind der Nacht
aufsuchen.«
»Wozu?« Von Anfang an hatte Sie sich dazu entschlossen, alles zu tun, um ihre Gesundheit aufrechtzuerhalten. Sie sah zu, dass sie ordentlich aß und genügend Schlaf bekam. Wenn sie ihren Michael finden wollte - diesen Namen hatte Sie ihrem Sohn gegeben -, konnte sie es sich nicht leisten, ernsthaft krank zu werden, und in ihrem Hinterkopf nagte ständig die Sorge wegen des Virus’!
Aber das Leben, das sie führte, zehrte an ihren Kräften, und oft hatte sie das Gefühl, eher zu existieren als zu leben. Wenn es nicht gerade darum ging, Informationen zu beschaffen, redete sie kaum mit den Leuten. Anscheinend gab es nicht viel zu sagen. Und da sie ohnehin nur ein einziges Ziel vor Augen hatte - sie war besessen davon, um ehrlich zu sein -, interessierte sie sich weder für die Menschen noch ihren Smalltalk, es sei denn, sie konnten ihr weiterhelfen. Tagsüber schlief sie, und nach Einbruch der Dunkelheit begab sie sich auf die Suche. Nun, da sie sich ihren Erinnerungen gestellt hatte, barg das Dunkel für sie keinerlei Schrecken mehr. Tatsache war, die Nacht hatte für sie etwas Tröstliches - sie verbarg Carols eher mutlose Seite vor der Welt.
Daneben las sie viel und durchforstete das Internet. Dabei schlug sie jedes Thema nach, das ihr irgendwie nützlich erschien - das Knacken von Schlössern, Zen-Meditation und die psychologischen Auswirkungen, die es hatte, ein Kind zu gebären. Außerdem informierte sie sich über Vampire.
Seit Menschengedenken gab es kein Land, in dem man nicht irgendwann Vampire gesichtet hätte. Bereits im Jahr 2500 vor Christus erwähnte sie das Gilgamesch-Epos, was den Gedanken glaubhaft erscheinen ließ, dass der Mythos auf Fakten beruhte.
Und trotz all der Spekulationen über vorzeitig begrabene bleiche Wesen, die das Blut Lebender tranken und sadomasochistische Sexual praktiken ausübten, gab es doch einige Vorfälle, die nicht so einfach hin wegerklärt werden konnten. Je mehr sie las, desto wahrscheinlicher schien es, dass tatsächlich Wesen existierten, die zwar nicht ganz menschlich waren, aber doch als Menschen durchgehen konnten.
Nachdem Carol Frankreich und Spanien hinter sich hatte, ging sie nach Deutschland. Zunächst versuchte sie es im hektischen Trubel Berlins und dann in den Randbezirken. Nachdem sie Berlin abgegrast hatte - oder vielmehr es müde war, sich hier weiter die Füße wund zu laufen -, suchte sie in München, und nach München in Bonn und dann in kleineren Städten und Ortschaften.
Schließlich gelangte sie in Skandinavien an, im Herbst folgten Italien und Griechenland. Sie war fest davon überzeugt, dass sie Länder, in denen ein Krieg oder die Gefahr drohte, dass sie auffielen, meiden würden. Darum ließ sie den Osten vorerst links liegen.
Bevor sie Philadelphia verlassen hatte, war ihr mit Renes Unters tützung der Name »de Villiers« eingefallen. Überall, wo sie hinkam, sah sie in Telefonbüchern, Adressverzeichnissen, Zeitungsarchiven und den Unterlagen über Geburten, Sterbefälle und Hochzeiten nach. In der Hoffnung, über Jeanette oder Julien zu stolpern, schlug sie alle nur erdenklichen Schreibweisen nach. Doch es gab nicht die geringste Spur von ihnen, so als seien sie alle nur Hirngespinste, pure Ein bildung gewesen. Und in den Augenblicken, in denen die Hoffnung sie verließ, glaubte sie das auch: Ich habe mir das alles nur zusammenge sponnen. Wahrscheinlich bin ich verrückt. Es gab Zeiten, in denen Renes Stimme ihre einzige Verbindung zur Realität darstellte.
»Sie haben sich das nicht ausgedacht, Carol. Sie müssen an Ihren Erinnerungen festhalten. Diese Leute haben Sie benutzt und miss braucht. Ob Sie Ihre Suche nun aufgeben wollen oder nicht, steht auf einem ganz anderen Blatt.«
»Ich werde nicht aufgeben. Ich kann nicht.«
Ein Jahr verging. Carols Finanzen waren in unvorhersehbarem T empo geschrumpft. Oft war ihre Stimmung gedrückt. Sie spürte g eradezu körperlich, wie ihre Kräfte abnahmen. Sie konnte weiterhin z iellos durch Europa streifen, ohne sie jemals zu finden. Sie konnten ü berall auf der Welt sein. Aus reiner Verzweiflung kehrte sie nach B ordeaux zurück.
Inspektor LePäge war mittlerweile im Ruhestand. Sie besorgte si ch seine Privatadresse, und es gelang ihr, ihm »zufällig« über den Weg zu laufen. Anfangs wollte er nicht mit ihr reden, aber sie ließ nicht locker.
Sie saßen nebeneinander auf einer mit Firnis überzogenen
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