Kind der Nacht
gusseisernen Parkbank am Rande der Terrasse du Jardin public. Es war Dezember, die Bäume trugen kein Laub mehr und es war frisch. Der Polizist stieß den Zigarettenrauch durch die Nasenlöcher aus und sah dem halben Dutzend in Schneeanzügen eingemummter Kinder auf der anderen Seite des Rasens beim Spielen zu. Offensichtlich interessierte ihn nicht im Geringsten, worum Carol ihn bat.
»Bitte, ich weiß, dass Sie unter ihrem Einfluss stehen. Sie haben Sie hypnotisiert, so wie jeden anderen auch, mit dem sie zu tun haben. Aber Sie müssen mir helfen. Sie haben mein Kind in ihrer Gewalt. Wenn nur ein Funke Menschlichkeit in Ihnen steckt, müssen Sie versuchen, sich zu erinnern.«
»Mademoiselle Robins, ich hätte mich von Anfang an nicht mit Ihnen abgeben sollen, und jetzt ersuchen Sie mich schon wieder um meine Hilfe. Das kann nur in einer Katastrophe enden.« Sein braunes Haar war zum größten Teil weiß geworden.
»Bitte. Sonst habe ich doch niemanden, an den ich mich wenden könnte. Wenn Sie irgendetwas wissen oder Ihnen irgendetwas einfällt, sagen Sie es mir.«
»Was ich weiß, kann ich Ihnen nicht sagen, und was ich nicht weiß, würde eine ganze Bibliothek füllen.« Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette.
Carol sah ebenfalls den Kindern zu. Michael, ihr Sohn, müsste nun bald neun sein. Ein Junge, der aussah wie er, ein schmales dunkelhaariges Kind mit rosigen Wangen, in Blue Jeans, einer unförmigen roten Jacke und einer ebensolchen Mütze, löste sich von der Gruppe und lief auf eine Frau zu, die er beinahe umrannte und dann umarmte,
allem Anschein nach seine Mutter. Die Frau lachte und küsste den Jungen. Carol seufzte.
»Ich habe keine Kraft mehr«, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu dem Polizisten. »Ich bin vollkommen leer, und das seit Langem. Aber was mich noch antreibt, lässt mich nicht aufhören, bis ich meinen Sohn gefunden habe. Es hat ein regelrechtes Eigenleben entwickelt.«
Sie blickte LePage an. »Haben Sie Kinder?«
Er schlug die Beine übereinander, sah Sie kurz an und wandte dann den Blick wieder ab. »Zwei Söhne und eine Tochter. Sie sind alle drei erwachsen. Meine Söhne sind verheiratet und haben bereits eigene Söhne.«
Auch Carol wandte ihren Blick ab. Sie war so vollkommen traurig und verzweifelt. Sie wusste, dass sie ihre Suche niemals aufgeben würde. Und sie wusste ebenfalls, dass Michael so gut wie überall sein konnte. Ihre Geldmittel schwanden zusehends, und ihre Gesundheit würde sie auch bald im Stich lassen. Sie spürte es kommen, so wie sie den Schnee kommen spürte. Hatte sie anfangs noch methodisch gesucht, voller Energie und Enthusiasmus, und war nach einem Plan vorgegangen, handelte sie nun vollkommen willkürlich. Auf gut Glück suchte sie einfach irgendwo, weil es sonst nichts gab, was sie tun konnte. In einer plötzlichen Vision sah sie sich völlig erschöpft und am Boden zerstört, aber nach wie vor besessen, einsam und allein durch die Welt ziehen, bis das Schicksal oder Gott oder irgendeine überirdische Vorsehung sich ihrer erbarmte und sie ihren letzten Atemzug tun ließ, der ihr den einzigen Frieden brachte, den es für sie gab. Inspektor LaPage sah wohl etwas Ähnliches für sie voraus. »Mademoiselle, ich stehe nicht unter ihrem Einfluss.«
Carol blickte ihn an. Er sah ihr nicht in die Augen. »Wollen Sie damit sagen, Sie haben sie aus freien Stücken geschützt? Die ganzen Jahre über? Warum?«
LePage blickte unverwandt über den Park. Er steckt sich eine neue Gitane an. »Meine Tochter - sie gehört zu ihnen.«
Carol brachte kein Wort heraus.
»Unsere Älteste. Sie hatte Leukämie und lag im Sterben. Sie haben ihr das Leben gerettet.«
»Wer außer Ihnen weiß noch davon?«
»Nur meine Frau.«
»Wo befindet sich Ihre Tochter jetzt?«
»Ich weiß es nicht. Meine Frau und ich, wir besuchen sie mehrmals im Jahr; sie sagt uns, wo wir hinkommen sollen. Sie sieht immer gleich aus und verändert sich nie, obwohl wir und ihre Brüder altern.« Die Runzeln in seinem Gesicht wurden tiefer.
»Bereuen Sie es?«
»Vielleicht sollte ich. Den Tod zu betrügen, ist wider die Natur, zu mindest gemäß unserer Auffassung davon. Aber ich bedaure unseren Entschluss nicht, und sie hat uns auch niemals Vorwürfe gemacht.« Er drehte sich zu Carol. »Ich liebe meine Tochter.«
»Aber es sind Killer!«
»Elisse hat noch nie jemanden umgebracht.«
»Aber die anderen
Weitere Kostenlose Bücher