Kind der Nacht
drei Uhr nachmittags landete Carol auf dem Mirabel-Airport in Montreal. Als sie das Wetter sah, wünschte sie sich, sie hätte einen wärmeren Mantel angezogen. Sie entschied sich jedoch dagegen, einen neuen zu kaufen. So lange wollte sie nun auch wieder nicht bleiben.
Sie musste sich sehr zusammennehmen, um sich nicht gleich auf den Weg zu der Adresse zu machen, die Julien ihr gegeben hatte. Aber während der langen Taxifahrt in die Innenstadt zwang sie sich, ruhig zu bleiben. Sie checkte in einem Hotel ein, regelte alles, um für den nächsten Tag einen Wagen zu mieten, suchte alles zusammen, was sie brauchen würde, und aß dann in einem netten Bistro eine Kleinigkeit zu Abend. Kaum war sie wieder in ihrem Hotelzimmer, rief sie Renes Privatnummer an.
Die Zeitverschiebung machte Carol zu schaffen. Das Gespräch verlief merkwürdig, und sie stritten sich beinahe.
»Carol, rufen Sie die Polizei.«
»Nein, André und die anderen verstehen sich zu gut darauf, Polizeibeamte - und auch sonst jeden - zu hypnotisieren.«
»Ich werde zu Ihnen fliegen. Sie sollten dort nicht allein sein.«
»Rene, machen Sie keine Witze! Ich muss schnell handeln. Ich muss tagsüber rein, solange sie verwundbar sind, und mit meinem Sohn wieder verschwunden sein, bevor sie aufwachen.«
»Haben Sie vergessen, dass die Sie gekidnappt haben? Und Ihren Sohn ebenfalls? Die sind zu viert, und Sie sind allein. Die sind Ihnen hoffnungslos überlegen. Wie kommen Sie bloß darauf, dass Sie es schaffen könnten?«
»Zu dem, was sie damals getan haben, waren sie nur in der Lage, w eil ich nicht begriffen hatte, was sie eigentlich sind. Jetzt weiß ich es, und auch, wie man sie mit ihren eigenen Waffen schlägt. Ich werde m einen Sohn da herausholen.«
»Und dann?«
»Dann fliege ich zurück nach Philadelphia.« Das war gelogen. Sie ha tte nicht vor, nach Philadelphia zu fliegen - dort würden sie als E rstes nach ihr suchen. Aber im Moment wollte sie Rene noch nicht unbedingt alles verraten.
Ein Laut wie von Eis, das im Glas klirrte. »Carol, geben Sie mir die A dresse dieser Leute. Jemand muss doch wissen, wo Sie zu finden si d.«
Carol zögerte. »Nur wenn Sie mir versprechen, nicht die Polizei anzurufen und auch nicht herzukommen.«
Nun war es an Rene, zu zögern. »Wenn ich bis morgen Abend nichts von Ihnen höre ...«
»Nein, Rene, überhaupt nicht. Ich muss erst einmal einen Überblick über die Lage gewinnen. Ich weiß nicht, ob Michael überhaupt noch am Leben ist... Ich will die Situation nicht unnötig verkomplizieren.«
Erneut herrschte einen Augenblick Schweigen. »Na gut. Aber geben Sie mir die Adresse. Nur für den Fall...«
»Sie müssen mir versprechen, dass Sie sich nicht einmischen!«
»Ich gebe Ihnen eine Woche. Das ist mehr als annehmbar. Sie haben mein Wort darauf. Danach werde ich allerdings die Kavallerie rufen!«
Carol sagte ihr, was sie wissen wollte. Abermals dieser Laut, als würde Rene etwas trinken. Die ganzen Jahre über hatte Carol geglaubt, es handle sich um Eiswasser, aber nun fragte sie sich, ob dem tatsächlich so war, vor allem weil Rene allmählich anfing, undeutlich zu klingen.
»Wissen Sie, Carol, ich hätte nicht gedacht, dass ich jemals so etwas sagen würde, aber ich glaube, Sie sind da tatsächlich auf etwas gestoßen.«
»Ich kann Ihnen nicht ganz folgen.«
»Ich meine, was, wenn es wirklich Vampire sind? Untote?« Sie hielt inne, um einen Schluck zu trinken. »Sie altern nicht. Haben Sie eine Vorstellung davon, was das heißt? Nicht wenige würden das für ein Wunder halten.«
»Das dürfte der einzige Vorteil ihres Zustandes sein.«
»Vorteil? Das ist noch recht gelinde ausgedrückt. Sie haben, wonach wir alle suchen - das ewige Leben!«
»Danach suche ich nicht, ich bin auf der Suche nach meinem Kind. Und ich muss zusehen, dass ich ein bisschen Schlaf bekomme. Wollen Sie mir kein Glück wünschen? Ich könnte es brauchen.«
»Natürlich wünsche ich Ihnen Glück. Wenn man es recht betrachtet, ist Glück das Einzige, was uns im Leben etwas bringt.«
Am nächsten Morgen war Carol um sieben Uhr bei der Hertz-Niederlassung. Sie holte einen Toyota ab und ließ sich den Weg nach Westmount beschreiben, dem Viertel im Westen von Mont Royal, wo sie lebten. Carol fuhr die Sherbrooke entlang, eine breite Straße voller Gebäude im klassisch französischen Stil mit reich verzierten, hell gestrichenen Fassaden, und bog dann nach links ab, zu dem
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