Kind der Nacht
heraus. Den einen nahm sie in die linke Hand und setzte ihn ihm aufs Herz, mit dem anderen in ihrer Rechten holte sie aus. Der Lichtschein fiel auf Andrés Brust und Gesicht. Carol starrte ihn an, ganz im Bann der Erinnerung, die plötzlich vor ihr Gestalt angenommen hatte. Er ist weggetreten, dachte sie, reglos, ohne Leben - wie eine Leiche, die aufs Begräbnis wartet.
Neun Jahre, rief sie sich schmerzlich ins Bewusstsein. Du hast mir neun Jahre meines Lebens gestohlen. Und mein Baby. Ich hasse dich, mehr als ich jemals jemanden gehasst habe. Du hast den Tod verdient. Und du bist noch nicht einmal ein Mensch! Also warum kann ich es dann nicht tun? Aber sie vermochte mit ihrer rechten Hand, die den hölzernen Hammer hielt, nicht zuzuschlagen, um ihm den Pfahl in sein armseliges Herz zu treiben und ihn so endgültig zu töten.
Sie versuchte, sich selbst dazu zu überreden, führte sich noch einmal all die Gründe vor Augen, die sie unzählige Male mit Rene durchgegangen war: Er hatte sie geschlagen, beschimpft und miss braucht und ihr den einzigen Menschen auf der Welt genommen, dem sie sich jemals wirklich verbunden gefühlt hatte. Er verdient weit mehr als den Tod, sagte sie sich. Was ist er denn anderes als ein wider natürliches Wesen, das schon vor langer Zeit hätte sterben sollen? Er ist ein Blutsauger, ein Killer, er tötet Menschen und ist ein grausamer, perverser Sadist. Er würde mich, ohne nachzudenken, auf der Stelle töten. Und vielleicht war dies der Grund, weshalb sie es nicht tun konnte. Sie war nicht wie er - sie pflegte zu überlegen, ehe sie etwas tat.
Es muss eine andere Möglichkeit geben, an Michael heranzukom men, dachte sie. Sie werden den ganzen Tag über schlafen. Ich kann alle Zimmer durchsuchen. Wenn er noch lebt und hier ist, werde ich ihn finden und mitnehmen. Diesmal weiß ich, was ich tun muss, damit sie uns nicht wieder aufspüren können.
Sie wollte gerade den rechten Arm senken, als sich etwas mit eisernem Griff um ihr Handgelenk schloss. Sie war so verblüfft, dass sie sich im ersten Moment nicht zu rühren vermochte. Doch dann hob sie, beinahe schon instinktiv, die Linke, bereit, ihm den Pfahl doch noch in die Brust zu treiben. Da packte seine andere Hand ihr linkes Handgelenk.
Er beugte die Ellenbogen, breitete die Arme aus und zog sie mit sich, zwang sie hinab, bis sie ihm über der Brust lag, ihr Gesicht nur wenige Zentimeter von seinem entfernt. Sie rechnete damit, dass er jeden Moment die Augen aufschlagen und die Lippen zu einem boshaften Grinsen verziehen würde. Und sie dann tötete. Doch nichts dergleichen geschah.
Carol war gezwungen, liegen zu bleiben, an seinen kühlen Körper gepresst, unfähig, sich zu rühren. Unnachgiebig wie stählerne Hand schellen umschlossen seine eiskalten Finger ihre Handgelenke.
Es hat ja so kommen müssen, dachte sie verbittert. Für den Augenblick verdrängte der Gedanke, wie ungerecht das Leben doch war, ihre Angst völlig.
Ihr blieb nichts anderes übrig, als reglos dazuliegen, ihre Kräfte zu schonen, zuzusehen, wie die Batterie ihrer Taschenlampe von Stunde zu Stunde schwächer wurde und auf die Nacht zu warten. Auf den Tod!
Ein paarmal war ihr, als höre sie sein Herz schlagen, aber es konnte genauso gut auch das ihre sein. Es ist wie bei der Schlafkrankheit, dachte sie. Er schläft und schläft doch nicht. Er ist tot, aber trotzdem am Leben.
»Bist du jetzt unter die Vampirjäger gegangen oder soll ich das persönlich nehmen?«, fragte er, wohl nachdem die Sonne untergegangen war.
Sogar seine Stimme klingt so wie früher, dachte sie. Zynisch und grausam, auf meine Kosten.
In einer fließenden Bewegung drehte er sie auf den Rücken, sodass er sich über ihr befand. Ihre Handgelenke hielt er noch immer fest. Die Taschenlampe leuchtete nun wirklich nur noch schwach, trotzdem konnte sie ihn deutlich sehen. Er sah genauso aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte, wenn er hungrig war - hager, eingefallen, wütend.
»Deine Halsstarrigkeit hat mich schon immer erstaunt«, sagte er. »Wenn du nicht so dumm wärst, würde ich es bewundern. Wie hast du uns ausfindig gemacht?«
»Julien. Er hat mir deine Adresse gegeben.«
»Carol, Carol! Hast du dir das Lügen immer noch nicht abgewöhnt? Manche Dinge ändern sich wohl nie, oder?«
»Es ist wahr! Ich war bei ihnen in Österreich. Und es ist mir egal, ob du mir glaubst.«
»Wichtiger noch, wie hast du
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