Kind der Nacht
raste. Ihre Hand fuhr hinter seinen Kopf, sie ließ ihre Finger durch sein Haar gleiten, zog ihn hinab zu sich, als wäre er ihr Geliebter. Seine kalten Lippen pressten sich auf ihren Hals, und ihr schauderte. Seine Zunge schoss hervor wie die einer Schlange und erkundete den Bereich flüchtig. Zwei rasiermesserscharfe Zähne ruhten auf ihrem Fleisch, ritzten ihr die Haut. Carol zitterte vor Angst, Tränen strömten ihr übers Gesicht.
»Vergiss nicht, Michael zu sagen, dass ich ihn liebe«, flüsterte sie. Vor lauter Angst ging ihr Atem nur schwach. Anschließend wartete sie, fragte sich, wie es wohl sein würde, zu sterben, wie es sich anfühlen würde, seine Zähne in sich zu spüren, und wie lange es dauern würde, bis er ihr das Blut angesaugt hatte.
Die Zeit stand still. Sie vermochte nicht zu sagen, wie viel Zeit verging. Vielleicht eine Sekunde, möglicherweise auch eine Stunde, aber er biss nicht zu. Er stieß sich von ihr ab und blickte auf sie hinab. Er wirkte noch immer hager, verhärmt und ausgezehrt. Aber da war noch etwas anderes, etwas, das sie nicht verstand. Und dann, noch während sie ihn beobachtete, neigte er den Kopf zur Seite wie ein Tier, um zu lauschen.
Mit einem Mal sprang er vom Bett auf, war mit einem Satz an der Tür und versuchte sie zu schließen, aber er war nicht schnell genug.
Carol richtete sich auf und sah in diesem Augenblick eine kleine Gestalt in der Öffnung, deren Umriss im Schein des verlöschenden Lichts nur undeutlich zu erkennen war
»Michael!«, rief sie.
»Qui est-ce, André?«, fragte ein leises, aber selbstbewusstes Stimm chen.
»Arrête, Michel! Va en haut!«
Sie hörte André noch etwas sagen, die Kinderstimme erwiderte etwas darauf, und André seufzte. Zuletzt wurde die Tür weit aufges toßen. Das Kind kam in den Raum und ging direkt auf das Bett zu. Selbst bei der schlechten Beleuchtung sah sie, dass er Andrés Schwarzes Haar hatte und dasselbe hübsche Gesicht. Aus großen b lauen Augen, die den ihren ähnelten, sah er sie mit einer Mischung a us Überraschung und Neugier an. Er ist schön, dachte sie, genau so, w ie ich ihn mir vorgestellt habe.
Schließlich sagte er: »Du bist meine Mami, nicht wahr?«
25
»Du liebe Zeit! Die Mutter von Draculas Sohn ist wieder da!«, rief Gerlinde, als die drei ins Wohnzimmer traten.
»Hol Chloe«, wies André Michael an, der sofort losrannte.
André ließ die Sporttasche auf den Couchtisch fallen.
»Was ist das alles?«, wollte Karl wissen, während er den Inhalt begutachtete und Holzpflöcke und Kreuze hervorzog.
»Du hattest doch nicht etwa vor, die an uns auszuprobieren?« Gerlinde klang entsetzt.
»Nein. Das könnte ich nicht«, setzte Carol zu einer Erklärung an. »Sie waren nur für den Fall...«
»Für den Fall, dass sie damit ein Freudenfeuer anzünden wollte«, meinte André höhnisch. »Setz dich da drüben hin!«
Sie nahm in einem malvenfarbenen Ohrensessel am Fenster etwas abseits der Sitzgruppe Platz. In der Nähe des Kamins standen zwei weitere Sessel einer riesigen fünfsitzigen Couch gegenüber, dazwischen ein gewaltiger runder Couchtisch aus Nussbaumholz. Daneben gab es noch zwei hellblau geblümte Zweiersofas, die sich von den übrigen Polstermöbeln abhoben.
Michael kam, gefolgt von Chloe, wieder ins Zimmer gerannt. Langsam ging er auf Carol zu, ließ sich dann allerdings auf der Kante eines Hockers vor Carols Sessel nieder und starrte sie wie gebannt an. Auf seinem Gesicht spiegelten sich Erschütterung und Neugier. Er ist anbetungswürdig, dachte sie. Kein bisschen schüchtern oder befangen. Sie wollte die Hand ausstrecken und ihn an sich drücken, hatte jedoch Angst, ihn zu erschrecken, bis ihr klar wurde, dass ihre eigene Angst sie zurückhielt.
»Hört zu«, verkündete Gerlinde, bereits auf dem Weg nach draußen. »Ich werde ein paar Liter Hämoglobin auftauen. Wie es aussieht, essen wir heute Abend zu Hause.«
»Carol, woher hast du unsere Adresse?«, verlangte Chloe zu wissen.
»Sie sagt, Julien habe sie ihr gegeben«, erwiderte André.
»Das glaube ich nicht«, sagte Karl.
»Ich auch nicht.«
»Sag es uns, Carol«, forderte Chloe sie auf.
»Ich habe sie wirklich von Julien.«
»Wie hast du Julien denn gefunden?«
Sie hatte nicht die Absicht, Inspektor LePage zu verraten. »Ich habe mich daran erinnert, dass sie mit Nachnamen de Villiers heißen, und dann ist mir eingefallen, dass Jeanette einmal sagte,
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