Kind der Nacht
unternehmen
würde, und wartete auf eine Gelegenheit, Kontakt zu ihr aufzunehmen.
Die nächsten vier Tage waren für Carol der Himmel. Nacht für Nacht war sie stundenlang mit ihrem Sohn zusammen. Früh am Abend, solange sie aß, ging jemand mit Michael nach draußen - dies war ein fester Bestandteil des Tagesprogramms. Sie nahm an, um sich Blut zu besorgen, brachte jedoch nicht den Mut auf, zu fragen, wie er denn daran kam. Wenn er zurückkehrte, unterhielten sie sich im Wohnzimmer oder sahen gemeinsam fern, machten ein Spiel zusammen oder bauten etwas, all dies stets unter den wachsamen Blicken eines der Vampire.
Er hatte eine lebhafte Fantasie, mit ihm wurde es nie langweilig und ihm fiel immer etwas Neues ein. Er stellte unentwegt Fragen - nach Bon Jovis Frisuren, wie es kam, dass japanische Samurai-Krieger sich trotz ihrer langen Schwerter noch hinsetzen konnten, bis hin zur chemischen Zusammensetzung diverser Haushaltsreiniger. Sie malten gemeinsam Bilder und töpferten. Er hatte eine Gitarre und spielte ihr Lieder vor, die er selbst erdacht hatte, und lieferte eine großartige Imitation von Michael Jacksons Tanzstil. Er ist ein Genie, dachte sie. Mein Kind ist ein absolutes Genie. Und trotzdem ist er der normalste Junge der Welt.
Als Carol in der fünften Nacht darauf wartete, dass André Michael nach Hause brachte, fragte sie: »Gerlinde, was heißt es eigentlich, dass Michael wählen kann, ob er sterblich oder unsterblich sein möchte?«
»Nun, an seinem neunten Geburtstag - ich weiß nicht warum, aber anscheinend ist das ein äußerst wichtiger Zeitpunkt - muss er eine Entscheidung treffen. An Silvester wird er neun.«
»Ja, ich weiß.«
»Ach, stimmt ja. Du warst ja dabei. Das hatte ich ganz vergessen. Na ja, je nachdem wie er sich entscheidet - und es muss seine eigene Entscheidung sein -, hat dies Auswirkungen auf alles, was er von da an tun wird. Essen zum Beispiel. Falls er sterblich sein möchte, kann er niemals wieder Blut trinken, als komplette Mahlzeit, meine ich.« Über dieses Thema zu sprechen, war Gerlinde offenkundig unangenehm. »Hey, Kleines. Willst du meine Bilder sehen?«
»Aber liebend gern!« Sie stiegen hinauf in ein weiß getünchtes, mit Ölgemälden voll gestopftes Atelier im dritten Geschoss.
»Das ist fantastisch«, sagte Carol. Sie bewunderte ein halb fertiges Porträt von Michael, das noch auf der Staffelei stand.
»Ja, es ist ziemlich gelungen. Da drüben sind noch ein paar andere.«
Gerlinde hatte Michael allein und mit André gemalt. Es gab weitere Gemälde, die Chloe und Karl zeigten, Julien, Jeanette und deren Kinder sowie andere Leute, möglicherweise ebenfalls Vampire. Eine Frau hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Inspektor LePage, aber Carol verkniff es sich, nach ihr zu fragen. Die Bilder waren sehr realistisch ausgeführt. Gerlinde zog helle Farben, klare Linien und scharfe Kontraste vor, aber es gab auch ein paar abstrakte Gemälde und Bilder in fotorealistischem Stil.
»Die sind wirklich gut«, sagte Carol. »Du hast Talent. Als Malerin könntest du zur Weltklasse gehören.«
»Danke«, sagte Gerlinde scheu. »Aber wenn man ein übernatürliches Wesen ist, darf man eins nicht vergessen: Man muss sich bedeckt halten.«
»Hey! Mich hast du ja auch gemalt!«, sagte Carol überrascht. An der Wand lehnten drei Ölgemälde, die eine jüngere Carol zeigten. Auf einem saß sie am Kamin im Wohnzimmer des Chateaus in Bordeaux, einen traurigen Ausdruck auf dem Gesicht. Auf dem nächsten saß sie auf dem Beifahrersitz des grünen Sportwagens, den Kopf an die Rückenlehne gelehnt. Sie wirkte entspannt, lachte, und der Wind spielte in ihrem Haar. Auf dem letzten stand Carol André gegenüber. Beide hatten die Hände in die Hüften gestemmt und funkelten sich wütend an.
»Die hast du wohl aus dem Gedächtnis gemalt, was?«
Gerlinde lachte. »Ich bin nicht dazu gekommen, dich Modell stehen zu lassen.«
»Hat Michael die Bilder schon gesehen?«
»Mhm.«
»Darum wusste er also, dass ich seine Mutter bin.« Carol stellte die Gemälde zurück an die Wand. »Hast du mit ihm über mich gesprochen?«
»In einer Tour, Kleine. Ich habe ihm erzählt, dass du eine Wahnsinnsmutter warst und ein wirklich großartiger Mensch.«
»Vielen Dank, Gerlinde. Schade, dass die Dinge sich so entwickelt haben.«
»Ja. Aber vielleicht gibt es ja diesmal ein Happy End.«
»Vielleicht«, sagte Carol, war jedoch nicht überzeugt davon.
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