Kind der Nacht
Dennoch war sie nicht ganz ohne Hoffnung. Solange sie nur mit Michael zusammen sein konnte, machte ihr alles andere wenig aus.
»Gerlinde, ich hätte da eine Bitte, aber es ist wirklich wichtig, dass es unter uns bleibt.«
Gerlinde verlagerte das Gleichgewicht unruhig auf den anderen Fuß.
»Ich frage dich nur, weil du meine Freundin bist und ich dich nicht so hintergehen will wie beim letzten Mal. Ich müsste dringend telefonieren.«
»Es gibt doch jemanden, der weiß, dass du hier bist!«
Carol schürzte die Lippen und nickte. »Meine Therapeutin! Ich will sie bloß anrufen und ihr sagen, dass es mir gut geht, damit sie sich keine Sorgen macht oder irgendetwas unternimmt. Solange sie von mir hört, ist alles in Ordnung!«
»Oh Mann!« Gerlinde hielt sich den Kopf. »Ich meine, wie soll ich dich denn das Telefon benutzen lassen, ohne es den anderen zu sagen?«
»Gerlinde, du wirst direkt neben mir stehen und jedes Wort hören, das ich sage. Bei deinem Gehör wahrscheinlich auch alles, was sie sagt. Bitte. Ich will keinen von euch in Gefahr bringen, und wenn André es erfährt... Du weißt doch, wie er ist.«
Gerlinde schüttelte den Kopf, doch dann sagte sie: »Okay, aber mach schnell! Wir haben nur ein einziges Telefon, im Wohnzimmer: Ich muss wahnsinnig sein!«
Carol wählte Renes Privatnummer. Zum Glück benutzte Rene daheim einen Anrufbeantworter und keinen Netzdienst. Sie war nicht zu Hause, aber Carol hinterließ eine Nachricht.
»Rene, ich bin’s, Carol. Ich rufe nur an, um Sie wissen zu lassen, dass alles in Ordnung ist, ganz großartig, wirklich. Es ist jetzt alles ganz anders als früher. Ich bleibe hier, um Michael näher kennenzu lernen. Alle sind wirklich nett zu mir. Ich wollte es Sie nur wissen lassen, damit Sie sich keine Sorgen machen. Es besteht keine Notwendigkeit, irgendetwas zu unternehmen. Ich melde mich bald wieder. Passen Sie auf sich auf und, Rene, vielen Dank für Ihre Hilfe!«
Als sie den Hörer auf die Gabel legte, zeichneten sich auf Gerlindes Gesicht tiefe Sorgenfalten ab. »Es ist okay«, sagte Carol. »Ihr seid jetzt sicher. Ich habe es in Ordnung gebracht.«
»Das hoffe ich, Kleines. Das hoffe ich wirklich.«
Spät in dieser Nacht saßen Carol und Michael mit Gerlinde im Wohnzimmer und sahen sich The Wild Ones an. Plötzlich wollte Michael von Carol wissen: »Wie hast du eigentlich meinen Papi kennengelernt?«
Gerlinde stellte den Fernseher leise.
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Carol. »Bist du sicher, dass du sie hören willst?«
»Ja.« Er rutschte vom Rand der Couch zurück, etwas näher zu ihr.
Carol wusste nicht, wo sie anfangen, wie sie es ihm sagen sollte. »Nun, es war etwa ein Jahr vor deiner Geburt in Frankreich. Ich war in einem Café und André wollte sich zu mir an den Tisch setzen.«
»Du machst Scherze?«, quietschte Gerlinde. »Das alte Lied! Der Typ ist hundert Jahre alt und trotzdem so originell!«
Michael lachte.
»Lach nicht«, wies sie den Jungen zurecht. »Ich mache mich gerade über deinen Vater lustig.«
»Wieso denn?«
»Weil das die älteste Anmache der Welt ist. Aber wie dem auch sei, sprich weiter, Carol.« Gerlinde schaltete den Fernseher samt Videorekorder aus.
Carol war nicht ganz wohl dabei, darüber zu sprechen. Sie wusste nicht, wie sie das, was geschehen war, Michael so beibringen sollte, dass er es auch verstand. Außerdem wollte sie ihm nicht wehtun oder seiner Beziehung zu Andréschaden.
»Nun, ich wollte allein sein, darum sagte ich zunächst Nein, und dann, als er mich darauf hinwies, dass kein anderer Platz mehr frei sei, Ja.«
»Hast du ihn gemocht?«, fragte Michael, von einem Ohr bis zum anderen grinsend. Wie es aussah, gefiel ihm die Geschichte bereits.
Carol verschränkte die Arme vor der Brust. »Nicht unbedingt.«
»Aber später schon, oder?«
Gerlindes Blick wanderte zur Tür, so als rechne sie damit, dass gleich jemand hereinkäme.
»Na ja, später gab es schon Zeiten, zu denen ich André gemocht habe.«
Michael wirkte ein bisschen verwirrt. »Aber er hat dich gemocht?«
»Ich bin mir nicht sicher. Das musst du ihn schon selbst fragen.«
Dies war offensichtlich nicht das, was der Junge hören wollte. Er blickte hinab auf seine Finger und begann, mit den Gelenken zu knacken.
»Michael, wenn man das macht, bekommt man ganz dicke Knöchel davon«, sagte Gerlinde.
»Was ist mit dir los, Michael?«, fragte Carol.
»Na ja, wenn ihr
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