Kind der Nacht
euch nicht gemocht habt, wie habt ihr mich dann gekriegt?«
Carol fragte sich, wie sie seine Ängste zerstreuen sollte, ohne ihn zu belügen. Schließlich legte sie ihm den Arm um die Schulter.
»Dein Vater und ich, wir haben eine ungewöhnliche Beziehung. Du weißt doch, dass deine Geburt etwas Außergewöhnliches war. Etwas Besonderes.«
»Ja, Chloe hat mir alles darüber erzählt«, sagte der Junge nüchtern, so als würde es ihn nicht wirklich interessieren. Er griff nach seinem Gameboy und begann auf den Knöpfen herumzudrücken. »Wohin hast du mich gebracht, als du weggelaufen bist?« Mit einem Mal war seine gute Laune wieder da. Er wechselte die Themen ebenso schnell, wie er sich durch die Fernsehkanäle zappte.
»Na ja, ich wollte nach England und bin ziemlich lange über die Autobahn getrampt. Du warst noch ein Säugling, gerade erst geboren, zwei Tage alt. Es schneite ein wenig, und es war sehr kalt, aber ich habe dich ganz nah an meinem Körper getragen. Ich glaube nicht, dass du gefroren hast.«
»Ich habe nicht geweint, oder?«
»Nein, du warst ein wundervolles Baby.«
»Und wohin sind wir gegangen?«
»Nun, wir haben ein paarmal an Tankstellen Rast gemacht, und ich habe dir Milch gegeben und die Windeln gewechselt, was man mit einem Baby eben so tut.«
Sie umarmte ihn. Er errötete und rutschte ein Stück von ihr weg.
»Da war eine Tankstelle, die war innen total ausgebrannt. Da hinein bin ich mit dir gegangen, weil es so kalt war und wir sonst nirgendwohin konnten.«
»Daran erinnere ich mich!«, rief Michael aus und blickte auf. »Es hat gerochen!«
»Kann sein«, sagte Carol. »Ich habe dir auch ein paar Lieder vorgesungen.«
»Au ja, sing mir eins vor!«
Sie lächelte, gab ihm einen Kuss auf die Stirn und sang ihm das Wiegenlied vor, das sie ihm vorgesungen hatte, als er sich noch an ihre Brust geschmiegt hatte. »>Da unten auf der Wiese, ein kleiner Junge, der weint. Vöglein und Schmetterlinge umflattern die Erde. Apfelschimmel und Graue, Schecken und Braune, all die hübschen kleinen Pferde, in Frieden vereint !«<
Der Gameboy ruhte still in Michaels Schoß. Mit großen Augen hörte er zu. Plötzlich fragte er: »Wie bin ich denn auf die Welt gekommen, wenn ihr euch nicht geliebt habt?«
Carol fasste ihm unters Kinn und drehte sein Gesicht zu sich. Es war ihr sehr, sehr ernst, und sie wollte, dass er das verstand. Seine Augen weiteten sich, als er ihren Blick sah, und sie musste ihm eine Antwort geben. »Michael, hör mir zu. André und ich, wir haben dich alle beide sehr, sehr lieb. Mag sein, dass er und ich uns nicht immer lieb haben, aber eines weiß ich mit Sicherheit: In der Nacht, in der du empfangen wurdest, da haben wir uns geliebt. Ich weiß es, denn ich erinnere mich genau daran. In diesen Augenblicken hat André mich geliebt, und ich ihn ebenfalls, und so bist du entstanden, durch jene Liebe. Du bist das Kind jener Liebe. Vergiss niemals, was ich dir eben gesagt habe! Was auch passieren mag, denke immer daran, dass du aus Liebe entstanden bist!«
Die drei schwiegen. Michael kuschelte sich in Carols Arme, und Gerlinde betrachtete Mutter und Sohn mit einem Ausdruck des Staunens auf dem Gesicht. Plötzlich ging die Tür auf und André kam herein. Er durchquerte das Zimmer und ließ sich gegenüber der Couch auf dem Sessel am Kamin nieder.
»Hey André!« Michael sprang auf. »Hast du diesen Film mit dem Typen auf dem Motorrad gesehen?« Er schaltete den Fernseher und den Videorekorder ein. Auf dem Bildschirm erschien kurz ein ruppiger Marlon Brando, dann schaltete Gerlinde das Gerät wieder aus.
»Tut mir Leid, mein Schatz, aber jetzt ist es Zeit zu baden. Wer als Letzter im Bad ist, ist eine alte Bratwurst!«
Michael stöhnte, doch dann gab er Carol einen Kuss und ging hinüber zu André, der ihn fest an sich drückte, und küsste ihn ebenfalls. Danach rannte er zur Tür, dicht gefolgt von Gerlinde. Noch im Hinausgehen wandte er sich um, rief »Hab euch beide lieb«, und dann war er auch schon verschwunden.
Carol lächelte seufzend. Alles, was mit Michael zu tun hatte, trieb ihr beinahe die Tränen in die Augen. Er ist ein erstaunliches Kind, dachte sie. So herzlich, so menschlich!
Sie schaute hinüber zu André. Sein Blick ruhte auf ihr, seine grauen Augen wirkten sanft. Er schien nicht mehr so distanziert, wie sie ihn in Erinnerung hatte.
Er ließ seinen Kopf gegen die Lehne des Sessels sinken, und sie schlug die
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