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Kind der Nacht

Kind der Nacht

Titel: Kind der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kilpatrick
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Francois Emil  Moreau stand.
    Es gab noch weitere Dinge aus seinem Leben: ein Foto von André, Karl und einem empfindsam aussehenden blonden Mann. Die Arme einander um die Schultern gelegt, lächelten sie in die Kamera. Die Rückseite trug die Aufschrift: Victory Studios, Madison Avenue, New York, und die Jahreszahl 1949. Daneben lagen Kontrollabschnitte von Eintrittskarten für La Soif in Paris von Henri Bernstein mit Jean Gabin in der Hautrolle, die das Datum vom 20. Februar 1949 trugen, außerdem zwei Theaterprogramme - Die Katze auf dem heißen Blechdach mit Burl Ives und Ben Gazarra im Morosco-Theater in New York vom 15. März 1955 und Shakespeares Coriolanus vom 7. Juli 1959 in Stratford-on-Avon mit Laurence Olivier und Edith Evans in den Hauptrollen. In Letzterem befand sich eine vergilbte aus der New York Times ausgeschnittene Rezension. Sie las einen Auszug daraus:
    Coriolanus ist der unsympathischste von Shakespeares tragischen Helden, denn das Vergehen, das letztlich zu seinem Sturz führt, ist erbarmungsloser, intoleranter, ganz persönlicher Hochmut. Er ist der schwierigste aller Charaktere - ein Mann, der unzweifelhaft Größe hat und dennoch nicht groß genug ist, Demut zu zeigen. Kein modernes Publikum dieses Zeitalters, das in bedeutenden Männern, sofern sie momentan nicht gerade im Rampenlicht stehen, gerne den umgänglichen Kerl von nebenan sieht, kann sich so ohne Weiteres für einen solchen Menschen erwärmen.
    Er ist schon überall gewesen. Und er muss in den Staaten gelebt haben, wurde ihr klar. Darum spricht er auch so gut Englisch. 
    Auf einer Daguerreotypie waren ein junger Mann und eine Frau zu  sehen. Eine sepiafarbene Fotografie aus einer späteren Zeit zeigte  dasselbe Paar, nun in mittlerem Alter, mit einem Baby. Sie fragte sich,  ob es sich wohl um seine Eltern handelte. Die Frau hatte dunkles  Haar und war hübsch, sie wirkte zart und scheu. Der Mann war hoch  gewachsen, gut gekleidet, trug einen langen Schnurrbart und ein ver schmitztes Lächeln auf dem Gesicht. Beide sahen sie André ähnlich.  Das Baby hatte, wie damals üblich, ein langes weißes Kleid an. Das  Gesicht konnte man nicht deutlich erkennen, geschweige denn sagen,  ob es nun ein Junge oder ein Mädchen war. Eine Familienaufnahme
    zeigte denselben Mann und dieselbe Frau im selben Alter mit demselben Baby und sechs weiteren Männern im Alter von ungefähr fünfzehn Jahren bis etwa Anfang vierzig. Alle hatten sie dunkles Haar und ähnelten André ein bisschen.
    Die unterste Schublade war abgeschlossen, aber in der obersten hatte Carol einen Schlüssel gesehen und probierte ihn aus. Er passte.
    In der Schublade befanden sich nur vier Gegenstände, jeweils zwei beieinander, fein säuberlich aufgereiht. Links lag ein goldenes herzförmiges Medaillon, dessen Kette sorgfältig so arrangiert war, dass sie ein größeres Herz darum herum bildete. Carol nahm das Medaillon heraus und öffnete den Verschluss. Links war das Porträt einer jungen Frau mit sanften Augen, dunklem Haar und einem warmherzigen Lächeln. Sie wirkte wie eine Französin. Rechts war
Andrés Bild. Bis auf das Hemd, den Pulli, den er anhatte, und seine Frisur, die offensichtlich aus einer anderen Zeit, möglicherweise den Zwanzigerjahren stammten, sah er genauso aus wie heute. Auf der Rückseite des Medaillons waren die Worte Mon Amour, Mon Coeur  eingraviert. Sie legte es zurück und arrangierte die Kette wieder sorgfältig wie zuvor. In der Mitte der Schublade befand sich ein altmodisches beigefarbenes Damentaschentuch mit einer fein gearbeiteten Spitzenbordüre, in dessen Ecke in Rosa die Initialen SV eingestickt waren. Carol nahm es heraus und roch daran - ein zarter Hauch Lavendel.
    Doch die erstaunlichsten Dinge lagen auf der rechten Seite, nämlich ihre Tarot-Karte, Die Herrscherin, und der Rauchquarz, den Jeanette ihr geschenkt hatte. Die Karte lag genau in der Mitte zwischen Vorder- und Rückseite und der Seitenwand der Schublade, und der Kristall wiederum stand aufrecht mitten auf ihr. Sie nahm beides in die Hand. Erinnerungen stürmten auf sie ein, Augenblicke mit Jeanette, mit André, Michaels Geburt, sie allein mit Michael in der
ausgebrannten Tankstelle, Momente, in denen André ihr freundlich und liebevoll begegnet war.
    Er ist sentimental, wurde ihr klar. Das habe ich nicht gewusst. Sie fragte sich, wer die Frau in dem Medaillon war und wessen Initialen wohl auf dem Taschentuch standen.

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