Kind der Prophezeiung
Befehl seinen Willen ausgelöscht hätte, fiel er sofort in einen tiefen, ungestörten Schlaf.
Am nächsten Morgen hatte es aufgehört zu schneien. Die Welt außerhalb der Mauern der kaiserlichen Herberge war eingehüllt in dickes, ununterbrochenes Weiß, und die Luft war trübe von dem feuchten Dunst, der fast schon Nebel war.
»Nebliges Sendarien«, sagte Silk ironisch. »Manchmal wundere ich mich, daß nicht das ganze Königreich verrostet.«
Sie ritten den ganzen Tag in einem meilenfressenden Trab, und am Abend waren sie in einer anderen kaiserlichen Herberge, nahezu identisch mit der, die sie morgens verlassen hatten – tatsächlich war sie dieser so ähnlich, daß Garion fast glaubte, sie wären den ganzen Tag geritten, nur um dort wieder anzukommen, von wo sie aufgebrochen waren. Als sie die Pferde in den Stall brachten, sprach er mit Silk darüber.
»Tolnedrer sind alles andere als unberechenbar«, sagte Silk. »Alle ihre Herbergen sehen gleich aus. Du findest die gleichen Gebäude in Drasnien, Algarien, Arendien und überall da, wo ihre Straßen hinführen. Es ist eine ihrer Schwächen – der Mangel an Phantasie.«
»Werden sie es nicht leid, immer wieder dasselbe zu tun?«
»Ich glaube, sie fühlen sich dabei wohl«, lachte Silk. »Wir wollen uns jetzt ums Abendessen kümmern.«
Am nächsten Tag schneite es wieder, aber gegen Mittag fing Garion einen Geruch auf, der sich von dem leicht staubigen Geruch, den Schnee immer zu haben schien, abhob. Wie unlängst, als sie sich Darin genähert hatten, konnte er das Meer riechen, und er wußte, daß ihre Reise fast zu Ende war.
Camaar, die größte Stadt Sendariens und ein wichtiger Seehafen des Nordens, war eine ausgedehnte Ansiedlung, die seit Urzeiten an der Mündung des Großen Camaar-Flusses bestanden hatte. Es war der natürliche westliche Endpunkt der Großen Nord-Straße, die sich bis nach Boktor in Drasnien erstreckte, und gleichfalls das natürliche Ende der Großen West-Straße, die durch Arendien bis nach Tolnedra und in die kaiserliche Hauptstadt Tol Honeth führte. Mit einiger Berechtigung konnte man behaupten, daß alle Straßen nach Camaar führten.
Spät an einem kalten, verschneiten Nachmittag ritten sie einen sanften Hügel zur Stadt hinab. In einiger Entfernung vor dem Stadttor hielt Tante Pol ihr Pferd an. »Da wir uns nicht länger als Vagabunden ausgeben«, verkündete sie, »sehe ich keine Notwendigkeit dafür, die verrufensten Gasthäuser aufzusuchen, nicht wahr?«
»Ich hatte darüber nicht nachgedacht«, sagte Meister Wolf.
»Aber ich«, entgegnete sie. »Ich habe mehr als genug von Herbergen am Straßenrand und heruntergekommenen Dorfgasthöfen. Ich brauche ein Bad, ein sauberes Bett und anständiges Essen. Wenn ihr nichts dagegen habt, werde ich diesmal unsere Unterkunft auswählen.«
»Natürlich, Pol«, sagte Wolf sanft. »Wie du wünschst.«
»Also gut«, sagte sie und ritt auf das Stadttor zu, während die anderen sich hinter ihr hielten.
»In welcher Angelegenheit kommst du nach Camaar?«, fragte einer der in Pelze gehüllten Wächter an dem breiten Tor recht ruppig.
Tante Pol streifte ihre Kapuze ab und fixierte den Mann mit kaltem Blick. »Ich bin die Herzogin von Erat«, sagte sie mit klingender Stimme. »Das ist mein Gefolge, und meine Angelegenheiten sind meine Sache.«
Der Wächter blinzelte und verbeugte sich respektvoll. »Verzeiht mir. Euer Gnaden«, sagte er. »Ich wollte Euch nicht kränken.«
»Ach nein?« höhnte Tante Pol. Ihr Tonfall war noch immer kühl und ihr Blick drohend.
»Ich habe Euer Gnaden nicht erkannt«, stotterte der arme Mann und wand sich unter ihrem gebieterischen Blick. »Darf ich Euch Hilfe anbieten?«
»Von dir benötige ich wohl kaum welche«, sagte Tante Pol und musterte ihn von oben bis unten. »Welches ist der beste Gasthof in Camaar?«
»Das wäre wohl der ›Löwe‹, Euer Gnaden.«
»Und…?« sagte sie ungeduldig.
»Und was, hohe Dame?« fragte der Mann verwirrt.
»Wo ist er?« fragte sie. »Steh hier nicht herum und glotze wie ein Tölpel. Sprich.«
»Er liegt hinter dem Zollhaus«, antwortete der Wächter, bei ihren Worten errötend. »Folgt dieser Straße bis zum Zollplatz. Dort kann Euch jeder sagen, wie Ihr zum Löwen kommt.«
Tante Pol zog ihre Kapuze wieder hoch. »Gebt dem Mann etwas«, sagte sie über die Schulter und ritt in die Stadt, ohne sich noch einmal umzusehen.
»Meinen Dank«, sagte der Wächter, als Wolf sich niederbückte und ihm eine kleine
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