Kind des Bösen: Psychothriller (German Edition)
Oberfläche.
Dasselbe gilt für seine erblühte Kerze. Würde man den Anfangszustand jedes einzelnen Atoms kennen, das sich in der Werkstatt befindet – im Wachs, im Wasser, in seinen Armen und in seinem Kopf –, würde man dessen Bewegung nachvollziehen und die unzähligen Berechnungen durchführen können, dann könnte man auch im Voraus sagen, wohin sich das Wachs bewegen, wie es abkühlen und wo sich jeder einzelne Riss und jede blassblaue Spitze bilden würde.
Lewtschenko betastet und betrachtet die Kerze von allen Seiten.
Die Wahrheit ist, dass man all das nicht weiß. Gott kennt sie, vielleicht – nicht aber der Mensch. Allein durch das Beobachten von Atomen und Teilchen, so heißt es, kann ihre Bewegung sich verändern. So könnte diese Kerze mit ihrer wunderschönen Verteilung von Wachsblüten dem Zufall kaum näher sein. Jede einzelne ein unnachahmliches Exemplar, im und aus dem Moment heraus gegossen. Nur eine Sekunde später wäre sie vollkommen anders. Genau das macht sie so besonders.
Hinter all dieser Zufälligkeit steckt jedoch die praktische Seite, die Fertigung. Die Kunden, das weiß Lewtschenko, sehen sich diese außergewöhnlichen Kerzen oft an und fragen sich, wie sie eigentlich entstanden sind. Und sie sind verblüfft, denn zur Herstellung von Kerzen, glauben sie aus ihrer Welterfahrung heraus, braucht es Gießformen und nicht die Launen des Zufalls.
Und genau das macht ihren Reiz aus.
Zweiter Tag
8
B eachtlich«, entfuhr es mir.
Laura murmelte etwas Unverständliches vor sich hin, das ich als Zustimmung deutete.
Wir waren beide schon früh im Büro und hatten angefangen, uns durch den Stapel von Zeugenaussagen zu kämpfen, die bei der Tür-zu-Tür-Befragung gestern zusammengetragen worden waren. Normalerweise bekam alles, was irgendwie von der Norm abwich, eine Markierung, damit wir uns sofort damit befassen konnten. Laura und ich waren uns aber einig, dass Details dabei leicht übersehen werden konnten, so dass wir es vorzogen, möglichst alles selbst durchzusehen.
Schweigend saßen wir in dem kleinen Büro, das wir uns teilten, und brüteten über den Akten. Bis auf das Schwirren des Deckenventilators, ein gelegentliches tiefes Luftholen von einem von uns und das stetige Umblättern von Seiten war es absolut still. Der Kaffee, der in den Tassen vor uns stand, entsandte heißen Dampf in die Luft.
»Nichts«, sagte ich.
»Nein.«
»Nichts.«
»Du wiederholst dich.«
»Ach ja? Vielleicht kann ich ja nicht mehr richtig gucken.«
Für Ermittlungen dieser Art bieten sich unterschiedliche Methoden an. Eine davon ist die Forensik. Obduktionen wurden immer zuerst durchgeführt. In der Zwischenzeit wurde alles andere analysiert oder zur Analyse vorbereitet. Die Ergebnisse solcher kriminaltechnischer Untersuchungen sind aber eigentlich nur dann hilfreich, wenn man einen Verdächtigen hat, mit dem man sie abgleichen kann. Wenn nicht gerade jemand mit einem bekannten Vorstrafenregister dem Opfer seine Fingerabdrücke direkt auf die Stirn drückt, liefert die Forensik zwar einen Schatten, aber ohne Profil. Ein klarer, deutlicher Umriss, ja, nützlich aber nur dann, wenn man die Form mit einer Person vergleichen kann.
Eine andere Methode besteht darin, einen Blick auf die Vergangenheit des Opfers zu werfen. Lassen wir unser immer noch nicht identifiziertes zweites Opfer einmal außer Acht, dann stellt sich die Frage, wie Vicki Gibson in die Fänge ihres Mörders geraten war. Sie war weder ausgeraubt noch vergewaltigt worden. Vielleicht hasste jemand sie aus einem Grund, den es noch herauszufinden galt. Der wahrscheinlichste Kandidat, der immer noch unten in der Zelle Däumchen drehte, schien entlastet zu sein.
Die dritte Methode – und das mag altmodisch klingen – sind Zeugenaussagen. Es ist nämlich ziemlich schwer, auf offener Straße eine Straftat zu begehen, ohne dass es irgendjemand mitbekommt. Überwachungskameras waren im Quadrateviertel selten, aber die Gegend war dicht bewohnt, und der Mord an Vicki Gibson hatte sich vor einer Menge Fenstern zugetragen.
Alle, die aus einem dieser Fenster hätten sehen können, waren befragt worden, und trotzdem hatte laut den Unterlagen, die sich vor uns stapelten, niemand etwas bemerkt.
Laura nahm ihre Kaffeetasse und trank einen Schluck.
»Das ist gar nicht so ungewöhnlich«, sagte sie. »In der Gegend. Die Leute sind gleichgültig. Und das wissen wir beide aus leidvoller Erfahrung.«
»Aber nicht so stark in den Randbezirken.« Das
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