Kind des Bösen: Psychothriller (German Edition)
einhackten.
Ich fuhr ein Stück weiter, stellte den Wagen in einer Straße unweit des Flusses ab und ging zu Fuß zum Wasser. Von hier aus bot sich mir ein grandioser Blick auf das Nordufer und auf die leeren Buchten, wo wir das zweite Opfer gefunden hatten. Boote waren heute nicht unterwegs. Nur die weißen Silhouetten der Möwen, die wie Kreuze träge über dem Fluss kreisten. Ich machte wieder kehrt, um den großen runden Tunnel zu finden, der unter der Straße entlang tief unter die Erde führte. Das Gitter war halb heruntergelassen, und die gebrochene Seite endete unten in Hunderten kleiner, rostiger Finger.
Meine Waffe ließ ich gesichert im Holster stecken, holte stattdessen die Maglitelampe hervor und schaltete sie ein, während ich mich unter dem Gitterende hindurchzwängte und in den Tunnel ging.
Drinnen war es keineswegs still, aber die Geräusche nahmen jäh eine andere Klangfarbe an. Die Welt um mich herum schien sich zusammenzuziehen. Das Leben in der Röhre, durch die ich nun ging, hatte sich auf einen Durchmesser von zwei Metern reduziert, und ich spürte und hörte das unentwegte Zischen entweichender Luft. Die Röhre bestand aus gewölbten Steinblöcken, dicht bewachsen mit grünen Flechten und feucht. Der schwache Schein der Taschenlampe erhellte nur wenige Meter vor mir. Ich hielt sie dicht vor meine Füße gerichtet. Der feuchtkalte Boden unter meinen Füßen war übersät von Zweigen und Ästen, die vom Fluss hierhergeweht worden waren. Während ich vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte, mischte sich das monotone Tropfen von Wasser in die dumpfe Stille des Untergrundes, und es wurde kühler.
Nach einer Weile mündete die Röhre in einen größeren quadratischen Raum mit Rohren, die sich aus einer Wand herauswanden, um im Untergrund zu verschwinden, als hätten sie ihre Köpfe nur kurz herausgestreckt, um sich gleich wieder wegzuducken. In einer anderen Ecke tropfte es stärker auf einen schwammigen Haufen trüben, zähen Schleims. In Vertiefungen im Steinboden hatten sich Pfützen gebildet. Der Geruch von Moos und vergehender Vegetation hing in dem Raum wie die Luft, die einem zuweilen aus einem verlassenen Gemüsestand entgegenschlägt.
Auf der gegenüberliegenden Seite führte ein Durchgang in einen, wie es schien, gewöhnlichen Gang. Vielleicht hatte hier einmal eine Verbindung zu den Betriebsräumen um die Station herum bestanden. Dort musste ich hin – ich war schon einmal hier gewesen.
Plötzlich traf der Schein meiner Lampe auf eine Bewegung, und sogleich schien mir das Licht der Taschenlampe eines anderen ins Gesicht.
Schützend hielt ich den Arm vor die Augen. »Au!«
Eine Stimme dröhnte mir entgegen, jovial und inbrünstig: »Wer da?«
»Polizei«, sagte ich. »Nehmen Sie dieses Licht weg. Ich mache keinen Ärger.«
»Schon gut.«
Der Lichtschein sank zu Boden, und vor mir tauchte die Silhouette einer Gestalt auf.
Ich erkannte einen hünenhaften Mann mit einem fassförmigen Körper, dessen Kleidung vor allem aus Lumpen zu bestehen schien. Er trug einen Bart, hatte struppiges schwarzes Haar, ein rotes Gesicht und grinste wie ein Irrer.
»Was kann ich für Sie tun, Officer?«
»Ich suche jemanden«, erklärte ich.
»Da kann ich Ihnen vielleicht helfen.«
Dieses »vielleicht« war natürlich zu erwarten. Die Leute hier unten hatten nichts davon, die Polizei zu vergrätzen, was andererseits aber keineswegs bedeutete, dass sie augenblicklich kooperierten, wenn es darum ging, einen aus ihren Reihen zu verpfeifen.
»Die Person, um die es geht, lebt nicht mehr«, fügte ich hinzu.
»Das heißt nicht, dass sie nicht hier ist!« Der umschlossene Raum ließ seine Stimme dröhnend widerhallen. »Hier gibt’s ’ne Menge Geister, Officer. Das wissen Sie. Die Einzigen übrigens, mit denen einige Leute hier unten überhaupt reden.«
»Könnte sein, dass er einer von Ihren Leuten ist«, sagte ich. »Wir haben ihn oben tot aufgefunden und müssen ihn identifizieren.«
»Beschreibung?«
»Viel haben wir nicht. Nur die hier.«
Ich zog ein paar Fotos von den Kleidungsstücken und den Gegenständen hervor, die wir beim zweiten Opfer gefunden hatten. Die meisten waren unspektakulär. Meine ganze Hoffnung ruhte auf einer Halskette, die wir unter seiner Kleidung gefunden hatten und an der ein alter Ehering hing.
Der Mann nahm mit seinen knochigen Fingern, die in Wollhandschuhen steckten, ein Foto nach dem anderen und strahlte sie mit seiner Taschenlampe an, bevor er sie mir
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