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Kind des Bösen: Psychothriller (German Edition)

Kind des Bösen: Psychothriller (German Edition)

Titel: Kind des Bösen: Psychothriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Mosby
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sich unter den Duft von Tausenden Blüten. Ein sanftes, helles Rauschen dringt an sein Ohr.
    Unter der Bank zieht er eine zerknitterte Plastiktüte mit zarten, weißen Wachspastillen hervor. Sie ist fast leer. Rauschend ergießt sich das Wachs in den Topf und verwandelt sich alsbald in eine schmierige Substanz. Mit einer Pipette, die er vom Tisch nimmt, gibt er Farbe hinzu, worauf die Brühe einen wunderschönen Blauton annimmt. Auch nach so vielen Jahren staunt er immer noch darüber, wie prachtvoll Wachs die Farbe annimmt – so rein und unverfälscht. Er starrt in den dampfenden Topf, als spähe er hinaus auf das perfekte Meer oder in den perfekten blauen Himmel. Nicht so, wie man es immer sieht, sondern so, wie es sich Menschen in ihren Träumen ausmalen.
    An der Wand hängt eine große Uhr, deren Sekundenzeiger zuckend vorwärtsrückt. Viertel vor zehn ist gerade durch.
    Lewtschenko streckt die Hand aus und taucht die Fingerspitze vorsichtig in den Topf.
    Zunächst ist da nur ein ganz schwacher Schmerz: wie in der ersten halben Sekunde, wenn man sich an siedendheißem Wasser verbrüht. Aber Wachs ist eine äußerst delikate Substanz; es bedarf nur weniger Grade, um es vom flüssigen in den festen Zustand zu bringen, und der Unterschied zur Temperatur seiner Haut reicht aus, den Aggregatzustand zu verändern, so dass die Kuppe seines Fingers, den er einen Moment später herauszieht, in eine zarte blaue Kappe gehüllt ist. Wenn er wollte, könnte er sich zarteste Handschuhe daraus fertigen.
    Bald ist sie fertig.
    Er rollt das Wachs vom Finger und reibt die gummiartigen Reste herunter, die haften geblieben sind. Dann steht er auf und betrachtet die Kerzen auf den Regalen hinter ihm, bis er sich schließlich für eine große, weiße entscheidet – einen Zylinder. Zurück am Tisch, befestigt er sie mit einem kleinen Klecks Knete auf einer kleinen, runden Metallschale. Er nimmt nur so viel, dass sie gerade stehen bleibt.
    In der Werkstatt befindet sich auch ein gesprungenes Porzellanbecken. Lewtschenko lässt eine alte Plastikspülschüssel etwa zwanzig Zentimeter mit eiskaltem sprudelndem Wasser volllaufen und stellt sie vorsichtig neben dem Gasbrenner auf den Tisch, damit das Wasser zur Ruhe kommen kann.
    Fünf vor zehn.
    Er wendet den Blick nicht von der Uhr, während die letzten Minuten verstreichen.
    Ihm bleibt noch eine Minute, als Lewtschenko die Flamme abdreht und ein Handtuch um den nackten Metallgriff des Topfes schlägt, um ihn sicher von der Feuerstelle zu heben. In seine Arbeit vertieft, schnieft er laut durch ein Nasenloch und gießt das flüssige blaue Wachs in die Schüssel um die weiße Kerze herum, die jetzt dasteht wie ein Miniaturleuchtturm inmitten eines stillen Ozeans.
    Ruckelnd zieht der Sekundenzeiger weiter.
    Punkt zehn Uhr nimmt er die Schale und taucht sie bis auf den Boden hinab in die Schüssel mit dem kalten Wasser.
    Flüssigkeit zu Flüssigkeit. Explosionsartig spritzt das Wachs aus der Schale hoch in das Wasser drumherum. Aber es kühlt sich so schnell ab, dass es schon in dem Augenblick erstarrt, in dem es sich ausbreitet. Zu schnell, um es mit bloßem Auge einzufangen, gleicht es eher einer gefrorenen Explosion als einer aufgehenden Blüte. In weniger als einer halben Sekunde ist es vollbracht. Aber Lewtschenko hält die Kerze noch einen Augenblick unter Wasser, bevor er sie heraushebt und die Schale auf den Tisch stellt.
    Ist es gelungen?
    Ja.
    Massiv und sicher steht die ursprünglich weiße Kerze vor ihm, jetzt aber mit einem Mantel aus blauem Wachs, der sie in unvorhersehbaren Zufallsmustern umgibt. Die Farben sind weniger intensiv und changierend, das Wachs hauchdünn und zart wie Blütenblätter. Ja, tatsächlich, sie ähnelt einer Blume. Lewtschenko aber sieht darin mehr den Himmel, das perfekte, jetzt leicht verschleierte Blau und das strahlende Weiß in der Mitte, das Farbenspiel der Wolken aus seiner Kindheit.
    Der Himmel, denkt er immer, ist ein treffendes Bild. Auch das Wetter ist schließlich zufällig und launenhaft, mit ersten kleinen Veränderungen, die sich zu unberechenbaren und komplexen Lagen entfalten, weshalb Wettervorhersagen bestenfalls nur für ein paar Tage halbwegs zuverlässig sind. Das Wetter lässt sich nicht vorhersagen, obwohl es den Gesetzen der Physik gehorcht. Alles ist festgelegt. Die Welt entrollt einfach einen Teppich. Einen Teppich, den niemand vorhergesehen hat, obwohl er schon fertig geknüpft ist. Die Wolken sind nur ein Muster auf der

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