Kind des Bösen: Psychothriller (German Edition)
Augen geführt. Die Rüstungsindustrie ist der wichtigste Wirtschaftszweig, und die Hälfte der Leute über fünfzig, denen man begegnet, hat irgendwie mit der Armee zu tun. Mein Vater war bei der Armee gewesen, bis er als Invalide entlassen wurde. Alle leben im Schatten des letzten Krieges. Er läuft uns hinterher, zerrt an uns. Auch wenn wir jetzt keinen Krieg haben, fühlt man sich manchmal immer noch wie in einem Partisanengebiet – als lägen Waffen unter Büschen versteckt und als sei jeder allzeit bereit, die Arbeit auf der Stelle hinzuwerfen, um zur Waffe zu greifen und erneut in den Krieg zu ziehen.
Ich suche nur nach einer Ausrede.
Einem Grund.
Ich nahm einen Schluck Bier.
Ich hätte besser über Rachel nachdenken und nach einer Möglichkeit suchen sollen, die Kluft zu überbrücken, die sich zwischen uns aufgetan hatte. Bevor sie ins Bett ging, hatte sie mich noch an die Unterlagen erinnert, die für das nächste Therapiegespräch vorzubereiten waren. Wir sollten aufschreiben, was wir am anderen anfangs gern gemocht hatten, und auch, was wir heute an ihm mögen. Ich dachte, dass ich alles im Griff hätte, wenngleich ich im Augenblick nicht den Hauch einer Ahnung hatte, was ich schreiben und wozu das überhaupt führen sollte. Als ob eine Liste etwas ausrichten könnte.
Stattdessen ließ ich den Tag Revue passieren, dachte an Vicki Gibson und den noch nicht identifizierten Mann, den wir gefunden hatten. Mir ging nicht aus dem Kopf, was Laura gesagt hatte.
Es gibt nicht immer einen Sinn, Hicks.
Würde es aber doch. Musste es – weil es so ist. Straftaten sind immer absolut erklärbar. Ich weigere mich, an das Böse zu glauben. Ein Mord, so abscheulich er augenscheinlich auch sein mag, erweist sich immer als schmutzig, erbärmlich und menschlich. Es gibt immer einen Grund.
Im Fall des Mordes an Vicki Gibson sprach alles für eine Beziehungstat.
Es hilft tatsächlich, sich das Ganze wie ein Gebäude vorzustellen. Mit Salon, Schlafzimmer, Bar und Keller. In einem dieser Räume nimmt das Verbrechen immer seinen Lauf. Immer. Menschen morden des Geldes wegen; sie tun es aus Eifersucht oder aus Verlangen; sie geraten außer sich und verlieren die Kontrolle. Und dann gibt es hin und wieder einen Mörder, bei dem etwas nicht in Ordnung ist – tief drinnen, im Keller, um im Bild zu bleiben, so dass er mit Missbildungen aufwächst. Aber es ist immer erklärbar. Es kommt von irgendwo aus dem Gebäude, und Gebäude sind von Menschen gemacht. So jedenfalls sehe ich die Dinge, und daran halte ich fest.
Nichts Böses, nichts Unheimliches.
Während ich auf die Straße hinaussah, glaubte ich, neben der Laterne jemanden stehen zu sehen. Ich erkannte das Gesicht einer Frau, eingerahmt in schwarzes Haar, mit totenbleicher, von Flecken übersäter Haut, ein Auge zugeschwollen zu einem Schlitz.
Dann aber trug ein Windstoß die Gestalt mit sich fort, indem er den Einfall des Lichtes auf das Gestrüpp veränderte, das sich dahinter befand und das ganze Geheimnis war.
Ich nahm noch einen Schluck Bier.
Morgen, dachte ich.
Morgen machen wir den Sack zu.
7
L ewtschenko sieht auf seine Armbanduhr.
Es ist halb zehn am Abend. Punkt zehn muss er fertig sein. Zwar würde der Kunde gar nicht merken, wenn der Auftrag zu spät erledigt würde, aber wenn es um diese besonderen Aufgaben geht, die Lewtschenko übernimmt, ist er immer peinlich genau. Gott sieht ihm schließlich zu, auch wenn der Kunde, Edward Enwright, es nicht tut.
Es wird Zeit anzufangen.
Er kontrolliert noch einmal, ob er den Laden abgeschlossen hat, schaltet das Licht aus und zieht sich in die Werkstatt im Hinterzimmer zurück. Auf der einen Seite stehen die Öfen und Arbeitstische, voll mit Scheren, Dochten und undurchsichtigen Plastikdosen in unterschiedlichen Formen und Größen. Auf der anderen Seite Hunderte von Kerzen, blockförmig und zylindrisch, auf wackligen Holzregalen in allen Regenbogenfarben. Der Raum wird von zu vielen Düften beherrscht, als dass man sie zählen könnte. Die Luft scheint aus getrockneten Blüten zu bestehen.
Lewtschenko greift zu einem kleinen Metalltopf. Er ist ziemlich ramponiert, als sei er mit unzähligen Hammerschlägen malträtiert worden. Sein Boden ist rußgeschwärzt von den leisen blauen Flammen des Gasbrenners, die schon seit unzähligen Jahren an ihm züngeln. Jetzt setzt er sich an den Arbeitstisch, schaltet den Brenner ein und entzündet die Flamme mit einem zischenden Streichholz. Der Geruch von Gas mischt
Weitere Kostenlose Bücher