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Kind des Glücks

Kind des Glücks

Titel: Kind des Glücks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norman Spinrad
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keine Zweifel mehr zu haben, in welche Richtung er sich wenden mußte, denn sein Kurs besaß die geometrische Geradlinigkeit einer ballistischen Flugbahn.
    Und dann, auf dem Höhepunkt eines Sprungs, glaubte ich am Horizont irgend etwas Fremdes zu erkennen, genau im Westen, wohin Guy sich bewegte – kaum mehr als der erste Anblick des Landes nach einer Reise auf dem offenen Meer.
    Ich sprang höher und kürzer und versuchte, so hoch wie möglich zu kommen, ohne zurückzufallen. Vraiment, da vorn war etwas am Horizont zu sehen, ein Flecken voller Farben und Umrisse.
    Doch ich hatte keine Zeit, innezuhalten und zu überlegen, denn Guv entfernte sich bereits von mir; ich mußte schneller werden, um überhaupt in Sichtweite zu bleiben. Deshalb hielt ich nicht mehr inne, um noch einen langen Blick auf das Ziel zu werfen, dem wir uns mit Sprüngen und Sätzen näherten, sondern jagte gleich ihm durch die Baumwipfel; ich holte ihn tatsächlich erst ein, als er gebannt vor einem Anblick stand, der uns beide fesselte.
    Wir befanden uns auf einem Hügel aus Blattwerk und blickten über eine lange, flache Senke im Bloomenveldt. Das Zentrum dieser Ebene in den Baumwipfeln erhob sich sanft zu einem weiteren Hügel, der von der Krone eines einzelnen, gewaltigen Baumes gebildet wurde.
    In einem überwältigenden Schauspiel pflanzlicher Fülle war die ganze Baumkrone aufgeblüht wie ein stolzer Pfau, der seine strahlende Pracht unter dem gewöhnlichen Geflügel entfaltet.
    »Seht, o ihr wahren Kinder des Glücks, seht den Zauberwald«, sagte eine Stimme, die in diesem Augenblick sowohl für meinen lange verlorenen Liebhaber als auch für das zu sprechen schien, das von ihm Besitz ergriffen hatte. »Seht den Duftgarten.«

 
   19
     
     
    Wir blieben einen langen Augenblick schweigend stehen, betrachteten die himmlische Stadt auf dem Hügel; das dichte Gewirr der großen Blumen gehorchte anscheinend bestimmten Gesetzen; Farbe bei Farbe, Form bei Form lagen die Blumen beieinander, so daß der große Garten wie eine richtige Menschenstadt in Bezirke unterteilt zu sein schien.
    Ich erinnerte mich an meinen ersten Anblick des großen Edoku aus dem Weltraum, denn während der Duftgarten zwar überall vom gleichen Nachmittagslicht erhellt wurde, waren seine Distrikte ein Mosaik aus strahlend kontrastierenden Farbfacetten, so daß das Ganze das Aussehen eines seltenen Edelsteins bekam, der in allen Regenbogenfarben schimmerte – ein Bild von atemberaubend verwirrender Farbigkeit, in dem dennoch knapp unter der Grenze bewußter Wahrnehmung eine nicht faßbare Ordnung enthalten schien.
    Die Bloomenkinder waren aus dieser Entfernung kaum als einzelne Wesen zu erkennen, ihre Gegenwart offenbarte sich in einer brodelnden Bewegung, die die Szene überlagerte – ein Wabern des Bildes wie bei einem überkomplizierten Mandala, das man zu lange unter Drogeneinfluß betrachtet.
    Ebenso konnte ich das kollektive menschliche Mantra der unsichtbaren und doch gesehenen Bewohner hören, denn die Luft summte unter einer schwachen, himmlischen Schwingung; ein ätherisches, wortloses Lied, das Hunderten unbekannten, fernen menschlichen Stimmen entsprang, die den gleichen Ton summten – ein Ton, der meinen Geist fliegen ließ, ein sirenenhaftes Om des Paradieses, das meine Füße vorrücken ließ, während meine Hände zur Maske greifen wollten.
    Guy stand mit zurückgelegtem Kopf neben mir, die Nase in die Luft gereckt und ein verzücktes, strahlendes Lächeln auf den Lippen, die Augen fest geschlossen, um die Düfte besser genießen zu können, wie ein kleiner Junge, der den Duft des wundervollsten Backwerks einatmet.
    Alors, wenn mein Geist von weitem allein durch Anblick und Klang gefangen wurde, wie mußte er sich dann fühlen?
    »Guy…? Guy…? Sag doch was, Guy, sag mir, was du im Wind riechst!«
    Seine Augenlider klappten flatternd auf, und er drehte halb den Kopf zu mir herum. Doch seine Augen schienen ebenso klar und leer wie die der Bloomenkinder, und seine Nüstern nahmen zitternd in langen, tiefen Zügen die parfümierte Luft auf.
    »Der Duftgarten…«, sagte die Gespensterstimme. »Mein Duftgarten«, sagte Guy Vlad Boca, wenn auch mit einer Stimme, die eher als Echo zu sprechen schien – als Erinnerung, die er bereits aufgegeben hatte und die unter Dopplereffekten im Fluß der Zeit unterging. Logisches Nachdenken hätte mich mit Angst erfüllen müssen, doch Guy hatte meine Hand genommen, und seine Stimme, die in perfekter Harmonie mit

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