Kind des Grals
war.
Die Wunde, die der Schnabel ihr zugefügt hatte, geriet in Vergessenheit. Unweit lag das Wild. Unweit lockte ein schlagendes Herz .
Während sie sich aufrappelte, um ihren Anspruch auf die Beute erneut und diesmal unmißverständlich geltend zu machen, wurde sie erneut von einem Luftzug gestreift.
Sie sah nach oben - und direkt in die blendende Sonne.
Knurrend wollte sie den Blick wieder senken. Da schoß aus dem unerträglichen Licht etwas hernieder.
Yamuna erstarrte. Diese eine Sekunde entschied über Niederlage oder Sieg.
Als die Werwölfin sich endlich doch über den Besinnungslosen werfen wollte, lag er schon nicht mehr dort am Boden. Vier mächtige Greifklauen waren aus dem Himmel herab auf ihn niedergestoßen, hatten sich in sein nacktes Fleisch gebohrt und darin verfangen und den kompletten Körper nach oben gerissen.
Vier, nicht zwei Klauen . denn es waren zwei Vögel, riesige Vögel, die ihr die sicher gewähnte Beute streitig machten!
Zuerst erweckte es den Anschein, als stritten auch die beiden um das Menschenwild. Aber es war der Kraftakt selbst, der Federn aus ihren Schwingen löste, die gemeinsame Anstrengung, mit der sie den Ohnmächtigen außer Reichweite Yamunas trugen ...
Neben der Werwölfin tauchte eine Gestalt auf, die Yamuna unter Hunderten, nein Tausenden erkannt hätte, gleichwohl der Fluch einen jeden Betroffenen bis zur Unkenntlichkeit entstellte.
Chiyoda, dachte sie. Mein Meister und Lehrer.
Erst in diesem Augenblick sickerte in ihr Bewußtsein, was passiert war. Wovon sie sich hatte überwältigen lassen, obwohl die Mondphase, die ihre Verdammnis sonst weckte, noch lange nicht erreicht war! Sie hatten zunehmenden Halbmond, nicht Vollmond - und Tag, nicht Nacht!
Während Chiyoda neben ihr innehielt und dem Flug der beiden Adler folgte, lauschte die Werwölfin in sich hinein. Ins Zentrum ihrer Erschütterung.
Sie erzitterte.
Es war, als stünde sie neben sich und könnte nicht fassen, was aus ihr geworden war - aus ihr und allen anderen, die dem immer wiederkehrenden Zwang des Blutvergießens hatten entrinnen wollen.
Es gab kein Entrinnen.
In dieser Sekunde und in jeder folgenden erhielt und bewahrte sie die Einsicht, daß sie nicht selbst- sondern fremdbestimmt war.
Seit dem ersten Schrei, den sie auf dieser Welt, in diesem Leben getan hatte. Und daß sie fremdbestimmt bleiben würde, bis sie dereinst ihr Leben wieder aushauchte.
Für wen?
Für was?
Während Yamuna in sich horchte, in die verborgensten Schichten ihres Selbst, glaubte sie eine ferne, süße Stimme zu hören, die nach ihr ... rief.
Sie atmete schneller. Die Nüstern ihrer wölfischen Fratze blähten sich, ihr Herz schlug angestrengter, und Chiyodas Blick schien bis auf den Grund ihrer Seele zu dringen.
Yamunas Nägel schabten über die Hauswand, vor der sie stand. Sie schloß die Augen, um Chiyodas Blick zu entrinnen. Sofort wurde der Ruf, der in ihr tönte, lauter. Verständlicher.
Hörst du es auch? wollte sie fragen. Aber ihre Zunge - diese Zunge - hätte gar keine Frage formulieren können.
Als sie die Augen wieder öffnete, war Chiyoda verschwunden. Sie fand ihn auf dem Platz, wo er seine Schüler um sich zu versammeln pflegte, wenn er sie spezielle Meditationstechniken gelehrt hatte.
Yamuna fühlte sich zu den anderen hingezogen, obwohl ihr Anblick sie zutiefst deprimierte.
Immer wieder irrte ihr Blick zum Himmel. Die Sonne hatte den Zenit überschritten. Der Mond war unsichtbar, und doch .
Wir sind ihm hörig. Es ist, als hätte er uns hier unter Chiyodas Fittichen eine Weile gewähren lassen, eine Weile den Traum von Freiheit und Selbstbestimmung träumen lassen - nur um uns jetzt um so drastischer klarzumachen, wie unbedeutend und machtlos wir sind. Wir alle. Auch du, Chiyoda. Gerade und ganz besonders du ...
In diesem Moment wünschte sie sich, die Augen zu schließen und zu sterben. Doch dann spürte sie ihre Verbundenheit mit den anderen Gescheiterten. Mit all denen, die ihren Fluch nicht mehr ertragen und ihn bekämpft hatten.
Und ebenso mit denen, denen er nie Schwierigkeiten bereitet hatte. Werwölfe, die ihr Los akzeptiert hatten .
... und die in derselben Sekunde entfesselt worden waren wie Chiyoda und seine Schüler. Ganz gleich, an welchem Punkt der Erde sie sich gerade aufhielten. Der Ruf, die sanft flüsternde Stimme, DIE VISION, daran zweifelte Yamuna keine Sekunde, wurde in jedem von ihnen laut.
Jetzt, in diesem Moment!
Und die Eingebung hatte ihnen mehr zu sagen
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