Kind des Grals
ihm bevorstand, war nicht ersichtlich. Für David machte es keinen Unterschied.
»Trink!« Anum hielt ihm den Kelch vor das Gesicht, näherte den Rand dessen Lippen.
In diesem Augenblick warf sich Rahel mit einem kindlich verzweifelten Aufschrei dazwischen und versuchte Anum den Kelch zu entreißen, ihn umzustoßen und den Inhalt auf den Boden zu verschütten.
Aber sie prallte von einer unsichtbaren Wand zurück, die ihr zugleich einen Schlag versetzte, der sie quer durch den Raum taumeln und schließlich stürzen ließ.
Es ist nicht mehr zu stoppen, dachte Lilith. Nicht einmal ich könnte es
noch aufhalten - selbst wenn ich meine Meinung ändern würde.
Anum zeigte sich ungerührt.
Und kippte den Kelch nun selbst.
So daß das leuchtende, von Magie durchstrahlte Blut in Davids vor Abscheu geöffneten Mund hineinrann .
... und augenblicklich sein Gift entfaltete.
*
»Jetzt du!«
Anums Arm zeigte auf Rahel, die leise wimmernd am Boden kauerte. Auf demselben Boden, auf dem - in einiger Entfernung - nun auch ihr Bruder David lag.
Tot.
Der magische Trunk hatte sein Herz angehalten.
Und was er ihm darüber hinaus noch angetan hatte, war nach dem fürchterlichen Schrei, mit dem er zusammengebrochen war, nur zu erahnen .
»Willst du nicht erst abwarten, was aus ihm wird?« Lilith wollte auf Anum zugehen. Wollte ihn beschwichtigen und zur Geduld ermahnen. Doch er stieg einfach über den Körper des Jungen hinweg und trat mit dem Rest von Liliths Blut im Kelch vor dessen Schwester.
»Nein«, sagte er, ohne Lilith anzusehen. »Erst wenn sie beide getauft sind, werde ich abwarten. Dann werden wir beide darauf warten, daß sie sich wieder erheben. Und wir beide werden auch bei ihnen bleiben, bis sie die nötige Reife erlangt haben, um auf eigenen Füßen zu stehen. - Es wird nicht lange dauern.«
Nein, dachte Lilith. Vampire wachsen schnell aus ihren Kinderschuhen.
Sie horchte in sich hinein, um herauszufinden, welche Gefühle der Anblick Davids in ihr weckte.
Sie war am Tod des Jungen ebenso schuldig wie Anum, der ihm den Trunk eingeflößt hatte.
Schuldig? Sie mußte aufhören, in diesen menschlichen Mustern zu denken!
Anum zerrte Rahel auf die Beine. Sie wirkte apathisch.
Lilith dachte etwas, woran das Mädchen in diesem Augenblick sicherlich keinen Gedanken verschwendete: Jetzt ist nur noch sie übrig. Sie ist die letzte ihrer Familie. Die letzte Chaim.
Die barbarische Taufe würde auch ihr Leben beenden. Vielleicht für immer.
Lilith zweifelte plötzlich wieder stärker, die Zeichen im Kelch richtig verstanden zu haben. Die ursprüngliche Macht und Magie darin war von etwas vergiftet, das ihr nicht wirklich nahestehen konnte. Sie fühlte sich in keiner Weise damit verbunden.
Unschlüssig verfolgte Lilith Anums Tun. Er zelebrierte den Akt der Taufe nicht, wie er es in tausend Jahren unzählige Male als Hüter getan hatte - er praktizierte ihn einfach. Ohne Zeit zu verschwenden. Ohne auf das leise Wimmern des Mädchens zu achten oder sich von der geringen Gegenwehr irritieren zu lassen.
Liliths Blut strömte auch in Rahels Mund.
Sie riß die Augen auf. Ihr Blick schien Lilith verschlingen zu wollen, als sähe sie in ihr die Alleinschuldige an ihrem nun nicht mehr abwendbaren Schicksal.
Und dann sackte in sich zusammen.
Haltlos und stumm wie ihr Bruder.
Der sich im selben Augenblick zu erheben begann!
*
Ein so enttäuschter Laut rann aus Anums Mund, daß Lilith nicht anders konnte: Sie mußte hinter ihn treten und ihre Arme um ihn schlingen - im vergeblichen Versuch, ihm Trost zu spenden.
Die Überwindung, zu dem Jungen hinzueilen, brachte sie nicht auf, obwohl David ihren Beistand höchstwahrscheinlich nötiger gehabt hätte.
»Allmächtiger .«
Anum krümmte sich in Liliths Umarmung. Er hielt immer noch den Stiel des Lilienkelchs umklammert. Ein Rest von Blut schimmerte darin.
Als Lilith es sah, überkam sie Ekel vor sich selbst.
»Siehst du jetzt ein, daß nichts und niemand den Kelch je wieder zum Funktionieren bringen wird?«
Sie erhielt keine Antwort, nahm das Geschehen selbst nur den Wirbel ihrer Gedanken hindurch wahr!
Ihr wurde schlecht.
Was habe ich getan?
Anum hatte ihr beschrieben, was auf seiner Reise nach Uruk, im Abteil eines von ihm vereinnahmten Zuges beim Versuch einer Kelchtaufe mit dem dortigen Täufling geschehen war.
Gleiches begann sich auch hier abzuspielen!
Etwas, das grauenhaft anzusehen war, zumal David seine Augen wieder geöffnet hatte und all das
Weitere Kostenlose Bücher