Kind des Grals
Bruchteil einer Sekunde blickte Makootemane in die Augen des Werwolfs.
Aber das, was er darin suchte - den Chiyoda, den er wie selbstverständlich schätzen und respektieren gelernt hatte - fand er nicht.
Gab es ihn überhaupt noch? Was war über ihn, über all die Männer und Frauen gekommen, die Hilfe im Sanktuarium gesucht hatten? Wer außer dem Mond hatte die Macht, sie in Sklaven ihres rät-selumwobenen Fluchs zu verwandeln?
Als der Werwolf Chiyoda zähnefletschend mit seinen Pranken ausholte, um den unterbrochenen Kampf fortzusetzen, dachte Ma-kootemane: Wo bleibst du? Warum läßt du dir soviel Zeit? Wenn du nicht bald eingreifst, werde ich diesen wertvollen Mann töten müssen, um ihn vor sich selbst zu schützen!
Die Haut des Adlers platzte unter den ungestümen Prankenhieben des Wolfes auf, und schwarzes Blut färbte das Federkleid.
Makootemane fühlte keinen Schmerz.
Nur Bedauern.
Doch bevor die Zähne seine Haut durchbohren, sein Fleisch verheeren und seine Knochen zermalmen konnten, rief eine Stimme: »Nein!«
Sie war nicht sonderlich laut, auch nicht magisch, aber dennoch ungeheuer eindringlich.
Endlich! flirrte es durch Makootemanes Hirn.
Das Erscheinen dessen, auf den er gewartet hatte, setzte neue Energien in ihm frei.
Und bis sich der Leitwolf des Rudels auf das Auftauchen eines zweiten Gegners eingestellt hatte, verlagerte sich das Schlachtfeld bereits.
Esben Storm hatte schon früher bewiesen, daß er andere auch gegen deren Willen mit sich nehmen konnte - in die Parallelwelt, die sein Volk die »Traumzeit« nannte. Wo die Gesetze der diesseitigen Welt keine Gültigkeit besaßen.
Und das schauerliche Geheul, das wie zäher Schleim aus Chiyodas Maul troff, verriet, daß dies auch ihm bewußt geworden war .
*
Die Magd stampft Butter und fährt sich von Zeit zu Zeit über das von Holzspangen gehaltene Haar. Sie ist früh aufgestanden. Sie hat Feuer im Herd gemacht und das Wasser im Kessel erhitzt. Dann ist sie in den Stall gegangen, hat ihn ausgemistet und die Tiere versorgt.
Sie ist nicht hübsch. Trotzdem greift Vater ihr manchmal, wenn er sich unbeobachtet fühlt, unter den Rock oder hebt ihn an, um sich zu bücken und mit dem Gesicht darunter zu verschwinden.
Mutter ist drall, unsere Magd hat kaum etwas auf den Rippen. Außer dort, wo auch ich meine Blicke gern verweilen lasse. Wenn sie sich bückt, fallen ihre Brüste wie reife Birnen aus dem Ausschnitt ihrer Bluse. Wenn dies geschieht, wendet sie sich verschämt ab und bringt das Malheur wieder in Ordnung. Wenn Mutter es bemerkt, hagelt es Beschimpfungen. Vater schweigt und leckt sich die Lippen. Ich weiß, woran er denkt.
Wenn ich durch das Fenster blicke, sehe ich den tiefhängenden Winterhimmel. Grau umgibt unser Haus, den Stall, die Gesindeunterkunft und die Scheune.
Unser Gehöft erhebt sich wie ein Eiland aus einem gischtweißen Ozean.
Die Gischt ist Schnee.
Dieser Monat, so kurz nach Jahresbeginn, ist eisig und der Frühling noch so unvorstellbar fern, daß man meint, kein Mensch in diesem Landstrich würde ihn je wieder erblicken.
Ich sitze neben dem Ofen und wärme mich, denn ich fühle mich elend. Mich plagen Husten und Schnupfen und Kopfweh. Aber niemand kümmert es. Mutter stopft Löcher in den Lumpen, die unsere Kleider sind. Vater raucht und starrt ins Leere. Der einzige Knecht, den wir noch haben, ist unterwegs zu unserem Nachbarn, um etwas Trockenfleisch von ihm zu leihen. Das unsere ist ausgegangen. Es war nicht viel.
Ich glaube, wir sind arm. Vater und Mutter reden nicht darüber, aber ich habe gehört, wie unser Gesinde sich darüber sorgt, daß es keinen Lohn
mehr erhält und jetzt auch noch Hunger leiden muß.
Die Kühe im Stall geben bei dieser Witterung kaum Milch, die Hühner legen nicht. Aber schlachten will sie trotzdem keiner. Womit sollten auch neue bezahlt werden, hat unser Knecht gefragt. Und die Magd hat nur bekümmert auf die Hand gestarrt, die unter ihrem Kleid verschwunden ist.
Ich weiß nicht, ob es ihr gefällt. Ich weiß nur, daß es mich um den Verstand bringt. Allmächtiger. Alles ist so anders geworden. Ich weiß nicht, wie mir geschieht. Seit ein paar Nächten verschaffe ich mir selbst Erleichterung von meinen Phantasien. Früher habe ich nicht einmal bemerkt, was um mich herum an solchen Dingen vorgeht. Ich hatte Vater und Mutter und kannte das Gesinde, aber ich unterschied nie zwischen Mann oder Frau, hübsch oder häßlich ...
Es ist anders geworden.
Ich bin anders
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