Kinder der Apokalypse
einem unterirdischen Zugsystem verbunden gewesen war.
Hawk sah sich um, als er weiterging, und sein Blick schweifte über eine Mischung aus alten Knochen, vertrockneten Kadavern und hin und wieder eine Menschenleiche. Er sah sich nichts davon näher an, es gab keinen Grund dafür. Tote Dinge lagen überall herum, und man konnte nichts dagegen tun. Er fand die Überreste von Kids beinahe jede Woche, Einzelgänger oder Ausgestoßene oder schlicht Unglückliche, die Opfer von Wesen geworden waren, die Jagd auf sie machten. Erwachsene fand er nicht mehr auf den Straßen, wenn man vom Wettermann einmal absah. Die wenigen, die außerhalb der Lager lebten, waren längst aufs Land geflüchtet, wo die Chancen zu überleben geringfügig besser waren, wenn man über ein paar Fähigkeiten verfügte.
Hawk hatte in den fünf Jahren, in denen er im Untergrund lebte, zwei Mitglieder seiner Familie verloren. Die Krächzer hatten eines erwischt, ein kleines Mädchen, das er Mouse genannt hatte. Der ältere Junge, Heron, war erst im Herbst gestorben. Er konnte immer noch ihre Gesichter sehen, ihre Stimmen hören und sich erinnern, wie sie gewesen waren. Er konnte immer noch die Hitze seines Zorns spüren, weil er sie im Stich gelassen hatte.
Er brauchte lange, um das Gebäude zu erreichen, arbeitete sich langsam und vorsichtig vor, um nicht von den Lagerwachen gesehen zu werden, was manchmal erforderte, dass er die Richtung wechselte. Cheney blieb in seiner Nähe und war sich seiner Vorsicht bewusst. Aber Cheney wusste, wie man am Leben bleibt, wie man sich unauffällig bewegte. Hawk war immer überrascht, wie etwas so Großes sich so leise und unsichtbar bewegen konnte. Wenn Cheney nicht gesehen oder gehört werden wollte, sah und hörte man ihn nicht. Selbst jetzt verblüffte er Hawk manchmal damit, dass er aus dem Schatten trat, als wäre er aus Nebel und Dunkelheit geboren. Wenn der Junge nicht so daran gewöhnt gewesen wäre, hätte der Hund ihn zu Tode erschreckt.
Als er die Hütte erreichte, die zu dem U-Bahnsystem führte, glitt er die dunkle Treppe zu der unterirdischen Tür hinunter und klopfte dreimal, zweimal fest und einmal leise, dann trat er zurück und wartete. Fast augenblicklich löste sich der Riegel auf der anderen Seite, die Tür ging auf, und Tessa stürmte heraus. »Hawk!« Sie hauchte seinen Namen wie die Antwort auf ein Gebet und umarmte ihn. »Ich hatte schon beinahe aufgegeben! Wo warst du?« Sie begann, ihn auf Gesicht und Mund zu küssen. »Ich war mir so sicher, dass du nicht mehr kommen würdest!«
Sie war immer so, wollte unbedingt bei ihm sein und war gleichzeitig überzeugt, dass er nicht auftauchen würde. Sie liebte ihn so sehr, dass es ihm Angst machte, aber es ermutigte ihn auch. Sie gab ihm mit ihrer Liebe eine neue Art von Macht, eine Macht, die aus dem Wissen erwuchs, dass man das Leben eines anderen verändern konnte, einfach indem man mit ihm zusammen war. Er hatte das beinahe von dem Moment an gewusst, als er sie kennen gelernt hatte. Er hatte es tief in sich gespürt, wie er noch nie etwas gespürt hatte.
Er erwiderte ihre Küsse, so begierig nach ihr wie sie nach ihm.
Als sie sich schließlich von ihm löste, lachte sie. »Man sollte meinen, wir hätten das hier noch nie getan. Man sollte meinen, wir haben unser Leben lang auf diesen Moment gewartet.«
Sie war klein und dunkel, ihre Haut von heller Schokoladenfarbe, ihr Haar rabenschwarz und kurz geschnitten zu einem albernen Helm, der selbst im Dunkeln schimmerte. Sie hatte große, weit offene Augen, als wäre alles, was sie sah, neu und unglaublich aufregend. Sie strahlte auf eine Weise Energie und Leben aus, wie es niemand sonst konnte. Sie brachte Hawk zum Lächeln, aber es gab noch viel mehr, was er für sie empfand. Sie hatte eine Begeisterungsfähigkeit an sich, die ansteckend auf ihn wirkte, und sie schaffte es, dass man sich selbst in den trostlosesten Augenblicken gut fühlte.
»Sieh dich an«, flüsterte sie. »Abgerissen und schmutzig und durcheinander, als hätte Owl dich einen Monat lang nicht baden lassen! Was für ein Junge!« Sie grinste, dann flüsterte sie: »Du siehst wundervoll aus.«
Das tat er selbstverständlich nicht, vor allem nicht im Vergleich mit ihr, ihren weichen Lederstiefeln und dem Mantel und der hellen, sauberen Bluse. Lagerkinder hatten immer bessere Kleidung. Seine Jeans und das Sweatshirt waren abgetragen, seine Turnschuhe fielen auseinander. Aber das hätte sie ihm nie gesagt. Sie würde ihm
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