Kinder der Apokalypse
auch wollen. Du wirst es genug wollen, um bei mir zu leben, Eltern hin oder her.« Sie lächelte, eher, um ihn zufriedenzustellen als aus Zustimmung, ein trauriges Lächeln, bei dem sie kläglich ihre Lippen verzog. »Eines Tages.«
Er wollte ihr sagen, dass das nie geschehen würde. Sie hatten schon zu lange gewartet. Bis vor Kurzem hatten ihnen noch ihre Hoffnungen und Träume genügt. Die Zeit war langsam verstrichen, und alles hätte möglich sein können. Aber nun wurde er nervös. Tessa schien ihm nicht näher zu sein als zuvor. Er sah, wie ihnen die Möglichkeiten davonglitten und das Gewicht einer unsicheren Welt sich auf sie senkte.
Er schnaubte frustriert. »Ich muss mit dir noch über etwas anderes reden. Ich brauche deine Hilfe. Tigers kleine Schwester Persia hat den Roten Fleck. Sie braucht Pleneten. Ich habe Tiger versprochen, dass ich zusehen werde, ob ich welches bekommen kann.«
Sie sah ihre gefalteten Hände an und blickte dann wieder auf. »Ich sehe dich morgen Abend wieder, wenn ich welches auftreiben kann. Ich nehme an, das ist Grund genug, es zu versuchen.«
»Tessa …«
»Nein, sag nichts weiter, Hawk. Worte kommen einem nur in die Quere. Umarme mich lieber für eine Weile, sei einfach hier bei mir.«
Sie hielten einander, und keiner von ihnen sagte ein Wort. Die Dunkelheit rings umher wurde schwerer. Hawk lauschte dem Schweigen, vernahm die leisen Geräusche kleiner Tiere, die in den Trümmern herumstöberten, und die Stimmen hinter den Mauern des Lagers. Er konnte Tessas Herz schlagen hören, ihren leisen Atem. Hin und wieder bewegte sie sich ein wenig und suchte eine andere Nähe. Hin und wieder küsste sie ihn, und er erwiderte den Kuss. Er dachte daran, wie sehr er sie bei sich haben wollte, wie sehr er wollte, dass sie mit ihm im Untergrund lebte. Ihre Eltern waren ihm egal. Sie gehörte zu ihm. Ihr Schicksal bestand darin, zusammen zu sein. Er versuchte, ihr das zu vermitteln, indem er es einfach dachte. Er versuchte, es sie durch die reine Intensität seiner Entschlossenheit spüren zu lassen.
Und in der kleinen Weile, um die Tessa ihn gebeten hatte, verschwand alles andere. Die Zeit dehnte sich und wurde langsamer und blieb schließlich vollkommen stehen.
Aber dann flüsterte sie: »Ich muss gehen.«
Sie ließ ihn abrupt los, als wäre sie plötzlich zu dem Schluss gekommen, dass er eine Grenze überschritten hatte. Das Fehlen ihrer Wärme bewirkte, dass er sofort zu frieren begann. Er stand mit ihr auf und versuchte nicht zu zeigen, wie tief enttäuscht er war.
»Das war nicht sehr lange«, wandte er ein.
»Länger, als du denkst.« Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper und sah ihn an. »Aber es ist nie lange genug, stimmt’s?«
»Morgen Abend?«
Sie nickte. »Morgen Abend.«
»Tu für Persia, was du kannst. Ich weiß, ich verlange viel.«
»Einem kleinen Mädchen zu helfen?« Sie schüttelte den Kopf. »Nicht viel.«
Er zögerte. »Hör zu, es gibt noch etwas. Es könnte da draußen etwas Neues geben. Der Wettermann hat ein Nest toter Krächzer am Hafen gefunden, bei den Kränen. Er weiß nicht, was sie umgebracht hat. Du hast nicht zufällig davon gehört, oder?«
Sie schüttelte den Kopf, und ihr kurzes schwarzes Haar schwang mit. »Nein, nichts. Das Lager schickt beinahe jeden Tag Leute aus, die nach Essen suchen. Keiner hat etwas Ungewöhnliches bemerkt.«
»Das will vielleicht nichts heißen. Sie sagen den Jüngeren nicht immer alles.«
»Daddy schon.«
Hawk nickte, nicht ganz überzeugt, dass ihr Vertrauen in ihren Vater so berechtigt war. Erwachsene schützten ihre Kinder auf seltsame Weise. Er nahm Tessas Hände und hielt sie fest. »Sei einfach nur vorsichtig, wenn du nach draußen gehst. Oder noch besser, bleib eine Weile drinnen, bis ich mehr herausgefunden habe.«
Sie lächelte schnell und ironisch. »Bis du nach draußen gehen und dich umsehen kannst? Vielleicht solltest du dir eher ein paar Gedanken um dich selbst machen. Damit das nicht immer nur mir überlassen bleibt.«
Sie standen dicht beieinander im Dunkeln und schwiegen eine Weile, sahen einander mit einer beinahe elektrischen Intensität an. Hawk brach das Schweigen als Erster. »Ich will dich nicht loslassen.«
Einen Augenblick lang antwortete sie nicht. Dann drückte sie seine Hände fester und sagte: »Eines Tages wirst du es nicht mehr müssen.«
Sie sagte es leise und ohne Nachdruck, aber mit ruhiger Gewissheit. »Ich weiß, dass ich zu dir gehöre. Ich weiß das. Ich werde
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