Kinder der Apokalypse
nie etwas sagen, was nicht dazu beitrug, dass er sich gut fühlte. So war sie nun einmal. Sie bewirkte, dass er sich nach ihr sehnte und ihr all das Gute, das er je über sie gedacht hatte, gleichzeitig sagen wollte, selbst das, was er seiner Ansicht nach niemals aussprechen konnte.
»Wie geht es den anderen?« Sie führte ihn zu der Betonbank, die an der abgelegenen Wand stand, und setzte sich mit ihm hin.
»Gut. Sie sind alle in Sicherheit. Owl lässt dich grüßen. Du fehlst ihr beinahe so sehr wie mir.«
Tessa biss sich auf die Unterlippe. »Ich wünschte, sie könnte zurückkommen. Ich wünschte, es wäre nicht so schwierig.«
Er nickte. »Du könntest es leichter machen. Du könntest zu uns kommen. Wir haben kein Lager, aber wir haben auch nicht die dummen Regeln eines Lagers.« Er griff nach ihren Händen. »Tu es, Tessa! Komm heute Nacht mit! Werde ein Ghost! Du gehörst hier nach draußen zu mir und nicht in diese Mauern.«
Sie grinste unbehaglich. »Du kennst die Antwort, Hawk. Warum fragst du immer wieder?«
»Weil ich nicht denke, dass deine Eltern entscheiden sollten, was du mit deinem Leben anfängst.«
»Sie entscheiden nicht, was ich mit meinem Leben anfange. Die Entscheidung, bei ihnen zu bleiben, ist meine eigene.« Sie presste die Lippen frustriert zusammen. »Ich kann nicht gehen, bevor … Mein Vater würde es überleben, aber meine Mutter … du weißt schon. Sie ist seit dem Unfall nicht mehr sie selbst. Wenn sie nur …« Sie schüttelte den Kopf, unfähig, weiterzusprechen. »Wenn sie nur …«
Ihre Stimme überschlug sich bei dem Versuch, die Worte herauszubringen. Steinblöcke hatten die Hände ihrer Mutter schwer verletzt, als eine Wand in der Küche des Lagers bei einem Erdbeben vor mehr als einem Jahr eingestürzt war. Dieses Ereignis hatte für Tessa, die sich selbst jetzt kaum dazu bringen konnte, darüber zu sprechen, alles verändert.
Hawk senkte den Blick. »Wenn sie ihre Hände wieder benutzen könnte«, schloss er, »hätte sie so etwas wie einen Lebenssinn und keinen Grund mehr, dich nicht vor die Mauern zu lassen.«
Tessa nickte. »Aber es geht um viel mehr als das. Sie ist auch innerlich verkrüppelt. Sie ist emotional gebrochen. Daddy und ich sind alles, was sie noch hat. Es würde sie umbringen, einen von uns zu verlieren.« Sie hob die Hand und berührte seine Wange. »Das weißt du doch alles. Warum reden wir darüber? Warum änderst du nicht stattdessen deine Ansicht? Warum kommst du nicht hierher? Wenn du das tätest, würden sie Owl und die anderen vielleicht auch hereinlassen.«
Sein frustriertes Zischen zeigte, wie gereizt er war. »Du weißt, dass sie niemanden von den Straßen reinlassen. Besonders niemanden in unserem Alter.«
Sie packte seine Hände. »Sie würden es tun, wenn du mich heiratest. Sie würden es müssen. Es ist Gesetz im Lager.«
Einen Moment lang war er gebannt von der Kraft ihres Griffs und ihres Blicks, aber dann schüttelte er den Kopf. »Vielleicht würden sie mich reinlassen, aber nicht die anderen. Eine Familie bleibt zusammen. Außerdem ist Ehe eine Konvention, die der Vergangenheit angehört. Sie hat nichts mehr zu bedeuten.«
»Sie bedeutet mir etwas.« Tessa weigerte sich, den Blick abzuwenden. »Sie bedeutet mir alles. « Sie beugte sich vor und küsste ihn auf die Lippen. »Was sollen wir machen, Hawk? Sollen wir uns den Rest unseres Lebens auf diese Weise treffen? Ist es das, was du willst – eine Stunde in der Woche in einer Betonhütte?«
Langsam schüttelte er den Kopf, die Augen geschlossen, und spürte den Druck ihrer Lippen auf seinen. Es kam dem, was er wollte, nicht einmal nahe, aber was man wollte, war nicht immer das, was man auch bekam. Tatsächlich geschah das nur selten einmal. Sie hatten dieses Gespräch schon öfter geführt, beinahe jedes Mal, wenn sie einander begegneten. Von Heirat hatte sie allerdings erst in letzter Zeit zu sprechen begonnen. Es war ein Zeichen ihrer Verzweiflung, dass sie versuchte, sie zusammenzubringen, und vorschlug, einen Weg zu wählen, der allen öffentlich zeigte, wie sie füreinander empfanden.
»Heirat würde nichts ändern, Tessa. Ich bin auch so schon mit dir verbunden, fester ginge gar nicht mehr. Wenn sich ein Erwachsener vor uns stellt und uns für verheiratet erklärt, würde das keinen Unterschied machen. Außerdem kann ich nicht in einem Lager leben. Das weißt du. Du weißt, ich muss auf der Straße leben, weil ich nur dort frei atmen kann. Eines Tages wirst du das
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