Kinder der Dunkelheit
behüteten Tage seiner Kindheit und Jugend. In zahllosen Nächten in der Weite der Wüsten unter dem endlosen Sternenhimmel hatte Luca gelernt, was Demut und wahre Größe bedeuteten und wie klein und schrecklich unbedeutend der sich selbst so wichtig nehmende Mensch doch in Wirklichkeit war. Aber der Älteste hatte Luca auch beigebracht, zu kämpfen, seine Kräfte sinnvoll und zielgerichtet einzusetzen, er hatte ihn gelehrt, was es hieß, Nachsicht walten zu lassen, doch auch, wie man rasch und effizient tötete. Staunend hatte Luca den Erzählungen aus Abdallahs Leben gelauscht, hatte erfahren, wie es war, in den Kreuzzügen Seite an Seite mit Saladin zu kämpfen. Er hatte gelernt, was damals alles geschah, wie absurd und wie sinnlos diese Kreuzzüge gewesen waren. Abdallah schien noch immer fassungslos über die Willkür und die Unverfrorenheit der Kreuzritter zu sein.
„Sie nannten sich Ritter und doch waren sie nichts als geldgi erige und ruhmsüchtige Strauchdiebe!“, hatte er gesagt. „Den allerwenigsten ging es um die wahre Sache, denn hätten sie nachgedacht und das benutzt, was sie ihr Gehirn nannten, so hätten sie sich eingestehen müssen, dass das, was sie dort taten, im Widerspruch zur Lehre jenes Mannes stand, in dessen Namen sie die Muselmanen abschlachteten.“
Dank Abdallah und Raffaele lernte Luca, was Ehre tatsächlich b edeutete, und er lebte das Gelernte jeden Tag aufs Neue. So war aus ihm ein Mann geworden, der Werte schätzte, der gerecht war, der ein Wissen sein eigen nannte, von dem andere nicht einmal zu träumen vermochten, der aber auch in Sekundenschnelle präzise und ohne zu zögern töten konnte. Der Umgang mit dem Schwert fiel ihm leicht, Wurfsterne, Krummsäbel, Peitschen, Dolche – er handhabte alles mit traumwandlerischer Sicherheit. Mit viel Geduld und Einfühlungsvermögen hatte besonders Abdallah ihn gelehrt, seine mentalen Fähigkeiten einzusetzen. Er konnte Menschen allein durch seinen Blick und die Kraft seiner Gedanken beeinflussen, sie in Trance versetzen oder sie Stunden ihres Lebens einfach vergessen lassen. Schmerzen nur durch bloße Willenskraft zuzufügen, war etwas, das man nur in absoluten Notsituationen tun sollte, so erklärten ihm seine Lehrer. Es galt als nicht besonders ehrenhaft, den Gegner durch mentale Schmerzen auszuschalten, wenn sich dadurch aber Leben retten ließen, dann heiligte der Zweck die Mittel.
Eines Tages, nach einem ausgeglichenen und langen Schwer tkampf, hatte Abdallah sein Schwert sinken lassen, ihn angelächelt und die Worte gesprochen, die Luca niemals zu hören geglaubt hatte: „Du warst ein gelehriger Schüler, Luca de Marco. Jetzt bist du nicht nur ein Kind der Dunkelheit, sondern auch noch ein wahrer Krieger der Dunkelheit. Ich bin stolz darauf, einer deiner Lehrer gewesen zu sein.“
Noch heute, Jahrhunderte später, regte sich Stolz in Luca, wenn er an diesen Augenblick zurückdachte. Abdallahs Anerkennung bedeutete ihm viel. Im Laufe der Jahre hatte er seinen Lehrer auch als Freund und weisen Ratgeber zu schätzen gelernt.
Raffaele hatte ihn schließlich von Tunis aus nach Neapel und von dort über Rom nach Venedig gebracht. Zeit spielte für sie keine Rolle. Luca genoss es, die Welt zu sehen, die Schönheiten der einzelnen Städte, die Faszination des endlosen Meeres. Weniger genoss er die Unbelehrbarkeit der Menschen, die diese Schönheit und Harmonie immer wieder mit blutigen Kriegen zu zerstören wussten. Sie aber waren den Kriegen ausgewichen, wo immer es ging. In Neapel hatten sie sogar eine der größten Seeschlachten regelrecht umfahren und den Menschen das Vorrecht überlassen, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen.
Auch wenn ein kühler Lufthauch durch die Ritzen des alten P alazzo-Fensters zog, der ihn ein wenig frösteln ließ, so schob er doch die Vorhänge noch etwas weiter zurück, um das nächtliche Treiben genauer sehen zu können. Unten waren bereits die ersten Lichter in der engen Straße angegangen. Mariella hatte schräg gegenüber im Keller ihrer Bäckerei damit begonnen, ihre köstlichen Gebäckstücke und das wundervoll duftende Weißbrot zu backen. Dick vermummte Männer fegten die Ecken aus, um die Stadt für die Venezianer und alle Touristen, die sich im Winter hierher verirrten, feinzumachen.
Luca spähte hinüber zur großen Kirchturmuhr. Es war noch vor fünf, noch hatte er viel Zeit. Zu gern wäre er jetzt losgegangen und hätte sich ziellos durch die Stadt treiben lassen, doch das ging
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