Kinder der Dunkelheit
Plan zu rufen. Aber mit der Freundin einen harmlosen Kinoabend zu genießen, das sollte dann für eine Frau von achtundzwanzig Jahren doch möglich sein.
Jetzt aber, noch auf dem Heimweg, waren ihr doch wieder Zweifel gekommen, ob sie nicht lieber hätte verzichten sollen. Verflixt noch einmal, sie hatte die Nase so voll davon! Sie war eine erwachsene Frau, hatte ihr Studium mit besten Noten absolviert , ihre Forschungsarbeiten waren in den Himmel gelobt worden. Ihr Doktorvater hatte sich schier überschlagen und ihrem angekratzten Selbstbewusstsein hatte das endlich wieder einen Schub gegeben. Kaum aber stand sie vor der Tür der gemeinsamen Wohnung, mutierte sie von der erfolgreichen Forscherin zum Schulmädchen. Warum tat sie sich das eigentlich an? Sie konnte ihr Hirn so lange durchforsten, wie sie wollte, dafür gab es keinen guten Grund mehr, schon lange nicht mehr. Die Liebe zu Thomas war mit jedem seiner Eifersuchtsanfälle auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Wenn sie nur endlich den Mut aufbringen würde, das alles zu beenden! Tapfere, große Gedanken waren das, aber als sie den Schlüssel ins Schloss steckte, wurde sie wieder zu dem ängstlichen kleinen Mädchen, das leise die Tür öffnete.
Sprühend vor Zorn stand er ihr sofort gegenüber und ohne auf ihre Worte zu hören, schlug er wie von Sinnen auf sie ein. Das Letzte, was sie spürte, war ein Schlag gegen die Schläfe, der sie aus dem Gleichgewicht brachte und nach hinten taumeln ließ. Im nächsten Augenblick knallte ihr Kopf gegen etwas Spitzes, Ha rtes – dann verlor sie das Bewusstsein.
12.
Venedig, Dezember 2010
Nebelschleier durchzogen sanft die Luft über dem Weg, der vom Bahnhof zum Bootsanleger führte. Die Steine waren alt, sehr alt, u ngleichmäßig verteilt und nun durch die Feuchtigkeit auch noch glitschig. Sabine ging vorsichtig und langsam, die Augen auf den Boden gerichtet, um nur ja nicht auszurutschen. Ihr kleiner Trolley holperte hinter ihr über das Pflaster und der Geruch von Schiffsdiesel veranlasste sie dazu, den Blick zu heben. Sie hatte den Pier erreicht, von dem das Schiff zur Piazza San Marco ablegen sollte. Der Wind am Hafen war frisch, doch nicht so eisig wie in Deutschland, und sie war froh, dass der Winter hier, jenseits der Alpen, milder war. Noch mehr beißende Kälte hätte sie derzeit nicht gebrauchen können.
Sie schien Glück zu haben. Kaum hatte sie ihr Ticket erstanden, näherte sich bereits die große Fähre und legte mit dem üblichen Getöse lautstark an. Sabine stieg kurz darauf ein und es gelang ihr sogar, den freundlichen Gruß eines Matrosen zu erwidern. Im Innern kuschelte sie sich in einen Eckplatz, wischte die angela ufene Scheibe des Schiffsfensters etwas frei und erhaschte einen Blick nach draußen.
Venedig! Sabine dachte an den Vorabend zurück, mitten in der Nacht war sie in München in den Zug nach Venedig gestiegen. Weg, sie wollte nur möglichst weit weg von allem und Abstand gewinnen. Die Fahrt hatte dann länger gedauert als gedacht, denn die Berge in Österreich waren tief verschneit und mehrmals musste der Zugführer die Fahrt verlangsamen. Sabine war darüber nicht böse gewesen, im Gegenteil: Hauptsache, sie brachte genug Strecke zwischen sich und die Ereignisse der letzten Wochen.
Sie hatte sich kurzfristig und ohne lange zu überlegen für V enedig entschieden. Hier durfte sie schon so viele glückliche Stunden verleben und diese magische Stadt hatte sie von der ersten Sekunde an in ihren Bann gezogen! Das Flair dieser märchenhaften Umgebung würde ihr vielleicht helfen, so hoffte sie zumindest, das Erlebte zu verarbeiten.
Als die Fähre in San Marco anlegte, fühlte es sich schon ein wenig an wie nach Hause zu kommen. Sie beeilte sich, ihre wenigen Habseligkeiten zusammenzuraffen und auszusteigen. Venedig selbst war in hellgrauen Dunst gehüllt. Die untergehende Sonne färbte den Nebel hier und da zartrosa und aus dieser einzigartigen Mischung ragten vor ihr die Türme der uralten Stadt in den Winterhimmel. Es sah so schön aus, dass es fast schon wieder kitschig wirkte.
Nur wenige Touristen waren mit ihr heute hier angekommen. Im Winter gehörte Venedig wieder – fast – den Venezianern. Sabine knotete den Gürtel ihres Mantels zu und machte sich auf den Weg zur „Pension Martin“. Sigñora Martin, die Eigentümerin und gute Seele des Hauses, hatte sich gefreut, zu hören, dass sie kam. Die Frau war einfach ein Schatz und Sabine kannte sie schon seit der
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