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Kinder der Dunkelheit

Kinder der Dunkelheit

Titel: Kinder der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Ketterl
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Schulzeit. Damals, als sie vom Campingplatz in Jesolo aus mit Freunden den ersten Ausflug nach Venedig unternommen hatte und sich rettungslos in die Stadt verliebte, um sich dann ebenso rettungslos darin zu verlaufen, hatte Sigñora Martin ihr und ihrer Freundin Hilfe angeboten und sie nach einer heißen Schokolade in einem Café eigenhändig wieder auf die Fähre zurück nach Jesolo verfrachtet. Das war vor über zwölf Jahren gewesen. Seither war der Kontakt zu Sigñora Martin nie mehr abgerissen.
    Als Sabine an der kleinen bezaubernden Pension ankam, die direkt an einem schmalen Kanal lag, wartete die Sig ñora schon auf sie. Die alte Dame stellte keine Fragen, aber ihr trauriger Blick, als sie die noch immer nicht ganz verheilte Narbe auf Sabines Stirn erblickte, sprach Bände. Sabine musste ihr einfach erzählen, was geschehen war. Es sprudelte fast schon aus ihr heraus, als hätte ihr Unterbewusstsein nur darauf gewartet, endlich ein wenig innere Spannung loszuwerden.
    Ja, er hatte sie geschlagen, der Mann, dem sie vertraut und an den sie geglaubt hatte. So viele von ihren Freunden hatten sie immer und immer wieder vor seinem Jähzorn und seiner unko ntrollierten Eifersucht gewarnt. Aber wenn man verliebt war, was ja zu Anfang zutraf, wollte man so etwas nicht hören. Man wollte stattdessen an die rosa Wolken glauben, auf denen man schwebte. Zu Beginn hatte sie sich noch geschmeichelt gefühlt, wenn er auf jeden Blick von anderen Männern ärgerlich reagierte. Bald aber wurde seine Eifersucht zu einer immer stärkeren Belastung für ihre Beziehung. Es begann damit, dass sie ihre Freunde nicht mehr besuchen und endete damit, dass sie nicht mehr ohne ihn aus dem Haus gehen durfte. Schleichend war ihre Liebe zu Angst geworden.
    Und dann kam jener Abend vor wenigen Wochen, als sie sich spontan zu dem verhängnisvollen Kinobesuch entschlossen hatte. Sie hatte ja noch versucht, ihn zu erreichen und ihm dann eine SMS geschickt, weil er nicht an sein Handy gegangen war. Wieder zu Hause angekommen, war er über sie hergefallen, aus dem Nichts, ohne wirklichen Grund. Er hatte sie immer wieder geschlagen, ins Gesicht, an den Kopf, auf den Oberkörper. Blut war ihr aus der Nase geschossen, sie hatte versucht, ihn abzuwehren und zur Vernunft zu bringen.
    Dann hatte er sie an der Schläfe getroffen und ihr war schwarz vor Augen geworden. Lange lag sie im Krankenhaus. Eine schwere Gehirnerschütterung, eine Platzwunde am Hinterkopf, ein angebrochenes Nasenbein, zahllose Prellungen im Gesicht und am Körper waren das Ergebnis seiner Attacke gewesen. Er hatte sich danach wohl tausend Mal entschuldigt, doch sie konnte und wollte nicht mehr. Ein Mann, der eine Frau schlägt, war kein Mann, schon gar keiner für sie. So viel war ihr klar geworden. In die Verzweiflung hatte sich allmählich Wut gemischt, und sie hatte ihre letzte Kraft aufgebracht, um diese Beziehung endlich zu beenden.
    Die Sig ñora hatte schweigend und immer wieder den Kopf schüttelnd zugehört. Mit einem freundlichen Lächeln, einem liebevollen Streicheln über Sabines Wange und den Worten: „Sie wissen, ich bin da, wenn Sie mich brauchen“, drückte sie, ohne einen weiteren Kommentar abzugeben, Sabine den riesigen alten Schlüssel in die Hand.
    Sabine genoss es, die kleine, knarzende Holztreppe hochzula ufen, vorbei an den vergilbten Bildern von Sigñora Martins Familie, alle liebevoll in goldene Rahmen gepackt. Wenige Minuten später stand sie in ihrem kleinen, aber hübschen Zimmer am offenen Fenster, der Winterwind spielte in ihren langen blonden Haaren und sie sah zu, wie die Dunkelheit sich langsam wie eine schützende Decke über Venedig senkte. Schon jetzt, nach so kurzer Zeit, wusste sie, dass ihre Entscheidung richtig gewesen war. Sie konnte zum ersten Mal seit langer Zeit wieder frei atmen. Zu Hause hatten die Erinnerungen und die allgegenwärtige Angst sie fast erdrückt und ihr die Luft genommen. Nun stand sie hier und blickte gedankenverloren auf ihre Lieblingsstadt hinaus.
    Das sehr profane Geräusch ihres laut knurrenden Magens brac hte sie zurück in die Realität. Sie war fast ein wenig verwundert. In der letzten Zeit hatte sie so gut wie nichts mehr gegessen. Das, was sie durchmachen musste, hatte ihr gewaltig auf den Magen geschlagen. Jetzt aber meldete sich eben jener lautstark zurück.
    „Dich hätte ich ja fast vergessen! Dann will ich einmal etwas für dich tun. Eine leckere Pizza kann nicht schaden.“ Ein Blick in den Spiegel

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