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Kinder der Ewigkeit

Kinder der Ewigkeit

Titel: Kinder der Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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moralischen Schranken und Schuldgefühlen weitgehend unbelastete Persönlichkeit des Evan Ten-Ten und das Erlernen neuer Fertigkeiten mithilfe von Erinnerungsabsorption und prionencodiertem Wissen machen es ihm leichter.
    Fortan begleitet ihn der Gesang des Messers …

 
26
     
    »Erzähl mir mehr davon«, sagte Leandra, als sie ihn erneut ritt, auf der nackten Haut der Glanz von Schweiß. Ihre Hüften bewegten sich, und die Brüste schaukelten vor seinen Augen. »Erzähl mir mehr davon.«
    Und Esebian, in ihr hart und voller Verlangen, obgleich er sich schwach fühlte, erzählte von seinen ersten beiden Morden als Evan Ten-Ten, den schwersten von allen. Mund und Zunge bewegten sich von ganz allein, wie seine Lenden, und er hörte fast ebenso erstaunt zu wie Leandra. Sie bestand auf Einzelheiten, und er nannte sie ihr, all die kleinen Details, die Evan Ten-Ten damals gesehen hatte. Leandras Hüften wurden schneller, der Tanz ihrer Brüste noch leidenschaftlicher, das Stöhnen zwischen ihren Fragen lauter – der Tod, von dem Esebian erzählte, schien das Leben in ihr zu einem Fieber aufzuheizen, wild und heiß.
    Später lag er in einem Zustand zwischen Wachen und Schlafen, am Rand von Träumen, die Erinnerungen aus seinen früheren Leben mit Fantasiebildern mischten. Manchmal stapfte er durch eine endlose Wüste, jeder Schritt schwerer als der vorherige, und doch musste er immer wieder einen Fuß vor den anderen setzen. Bei anderen Gelegenheiten saß er neben Ayanne am zugefrorenen See und wusste, dass die Kinder nicht im Haus oben auf der Hügelkuppe lagen, sondern in ihrem Schloss aus Schnee. Es war kalt, und er trug keine Kleidung, aber die Kälte erreichte ihn nicht ganz, hielt sich gerade weit genug zurück, dass er am Leben blieb.
    Noch etwas später, nach ein oder zwei Tagen, gab er Leandras Drängen nach, und sie unternahmen lange Streifzüge durch das große Schiff der Enha-Entalen. Sie wanderten an den anderen Alkoven vorbei; bei den meisten von ihnen waren die Zugänge jetzt geschlossen. Die Passagiere dahinter lagen in der Starre und würden in gut drei Wochen daraus erwachen, wenn der Transporter das Zielsystem erreichte. Esebian erklärte der immer neugierigen Leandra, dass viele die Gelegenheit nutzten, um in aktiver Starre Wissenslücken zu schließen oder Neues zu lernen, um sich anschließend Aufgaben zu widmen, die ihnen Meriten einbrachten. Es gehörte zu den Angeboten, mit denen die Enha-Entalen den Aufenthalt an Bord ihrer Schiffe für Passagiere reizvoll machten.
    »Warum?«, fragte Leandra. Es schien eins ihrer Lieblingsworte zu sein. »Ich meine, was haben die Enha-Entalen davon, wenn sich Passagiere an Bord ihrer Schiffe befinden? Die Reisenden sollten für den Flug bezahlen und nicht umgekehrt, oder?«
    Sie hatten den Zylinder des Passagierabteils verlassen und schritten durch einen Korridor, der an den Ruhezonen der Enha-Entalen vorbeiführte. Rechts und links rotierten kleinere Zylinder mit Hunderten von weißen und silbrigen Kokons, Aggregationen, in denen sich skorpionartige Geschöpfe für die Dauer des Phasenflugs eingesponnen hatten. Hier und dort bewegten sich Fühler und Gliedmaßen im Schlaf, während um sie herum das Schiff seufzte und flüsterte.
    »Dies ist ihr Lohn«, sagte Esebian leise, um die Ruhenden nicht zu stören. »Sie träumen fremde Träume. Weißt du, was ›Enha-Entalen‹ bedeutet?«
    »Es ist ein Name, nicht wahr?«
    »Es ist mehr als nur ein Name. Der Begriff bedeutet so viel wie ›Geschichten sind Leben‹. Die Distortion hat auf das Bewusstsein eine ähnliche Wirkung wie der Transit durch ein Filigran.«
    »Träume?«, fragte Leandra. »Aber ich habe nicht geträumt, als die Distortion kam.«
    »Du erinnerst dich nur nicht daran. Träume sind klein und groß, schwach und stark, und jeder Traum erzählt eine Geschichte. Die Enha-Entalen empfangen sie.«
    »Sind sie … Telepathen?« Dieser Gedanke schien Leandra zu erschrecken, und sie rieb sich kurz die Arme. Ein Teil von Esebian beobachtete ihre Reaktion aufmerksam.
    »Nein, ich glaube nicht, dass man von Telepathie sprechen kann. Sie empfangen Bilder, die ihnen Geschichten über uns erzählen.«
    »Sie sehen, was wir gesehen und erlebt haben?«
    »In gewisser Weise.«
    Leandras Blick strich über die Kokons. »Ich weiß nicht, ob mir das gefällt.«
    »Was auch immer die Enha-Entalen sehen: Sie urteilen nicht«, sagte Esebian. »Sie sind Beobachter, keine Richter. Die Bilder bereichern ihr Leben.

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