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Kinder der Ewigkeit

Kinder der Ewigkeit

Titel: Kinder der Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Wissenschaftler weichen müssen, aber seine Persönlichkeit war in Esebians komplexem Selbst fest verwurzelt.
    »Sie überlegen, ob Sie Waffengewalt gegen mich einsetzen sollen«, sagte Tirrhel ruhig. »Ich rate Ihnen davon ab. Außerdem würden Sie dann gar nicht erfahren, warum ich hier bin.«
    Weil du dann tot wärst und es mir nicht mehr sagen könntest?, dachte Esebian. Oder weil ich tot wäre und die Antwort nicht mehr hören könnte?
    »Weder noch«, sagte Tirrhel und nahm auf seiner Seite des Tisches Platz. »Und nein, ich lese Ihre Gedanken nicht. Die kleinen Gedankenspielchen in Ihrer Großhirnrinde erfüllen durchaus ihren Zweck. Aber ich errate, was Ihnen durch den Kopf geht.«
    Jemand mit viel Erfahrung, schloss Esebian sofort. Jemand, der lange genug gelebt und viel Zeit gehabt hat, Menschen kennenzulernen und die vielen kleinen Hinweise in Mimik und Körpersprache zu deuten. Ein Aufgestiegener. Ein Kandidat wie ich.
    »Bitte setzen Sie sich«, sagte Tirrhel. »Lassen Sie uns ein kleines Gespräch führen. Später können Sie immer noch versuchen, mich umzubringen.« Ein flüchtiges Lächeln huschte über die Lippen des Mannes. »Womit wir eigentlich schon beim Thema wären. Wie viele Menschen haben Sie ermordet? Und nicht nur Menschen, wie ich hörte. Wie viele sind es insgesamt? Fünfzig? Sechzig? Haben wir korrekt mitgezählt?«
    Wir, dachte Esebian, und etwas in ihm erstarrte zu Eis, während ein anderer Teil in einen emotionslosen Analysemodus schaltete. Der Besucher war etwa fünfzig Scheinjahre alt, hatte kurzes dunkles Haar mit einigen Lücken für kleine Tätowierungen, die vielleicht Nanosensoren enthielten, und eine recht große Nase über einem schmalllippigen Mund. Die Augen waren auffallend groß, die Pupillen unterschiedlich gefärbt. Implantate, vermutete Esebian, oder das Resultat von aufwendigerem gesteuertem Wachstum. Die unauffällige Kleidung bestand aus halb biologischen Polymeren, die ihre Farbe der jeweiligen Umgebung anpassten, möglicherweise eine semipermanente, multifunktionelle Zweite Haut.
    »Wer sind Sie?«, fragte Esebian noch einmal und sank langsam auf einen Stuhl, die internen Waffensysteme bereit.
    »Zuerst möchte ich Ihnen sagen, wer ich nicht bin«, antwortete Tirrhel nonchalant. Er legte die Hände auf den Tisch und faltete sie, schien mit dieser Geste darauf hinweisen zu wollen, dass er nichts Böses im Schilde führte. »Ich bin kein Ethikwächter, und ich gehöre auch nicht zu den hiesigen Observanten. Ich bin ein … Privatmann.«
    »Eben haben Sie von ›wir‹ gesprochen.«
    »Andere Privatleute schicken mich zu Ihnen. Wir haben einen Auftrag für Sie.«
    Esebian seufzte innerlich. »Derzeit nehme ich keine Forschungsaufträge an«, sagte er, obwohl er wusste, dass es sinnlos war. »Ich bin mit eigenen Projekten beschäftigt.« Er deutete nach draußen, in Richtung der über den Experimentalseen schwebenden Forschungsstationen.
    Im rechten Auge des Fremden blitzte es kurz, und Esebian fragte sich, ob es ein Lichtreflex vom Fenster war. Die Nanosensoren in seinen Wangen registrierten weder Sondierungssignale noch den Versuch, mit versteckter Stimulation seiner Sinne Einfluss auf Wahrnehmung und Bewusstsein zu nehmen.
    »Sie beschäftigen sich seit inzwischen zwanzig Echtjahren mit dem FEK-Syndrom«, sagte Tirrhel. »Glauben Sie, damit mehr Meriten verdienen zu können als mit der Tätigkeit, die Sie vorher ausgeübt haben?«
    Esebian schwieg und wartete.
    Der Fremde auf der anderen Seite des Tisches ließ einige Sekunden verstreichen. »Sie sind zweihundertdreiundfünfzig Jahre alt und seit fast dreißig Jahren Konsul. Ihnen bleiben nur noch wenige Jahre für den Aufstieg in die Achte. Denken Sie, in dieser Zeit genug Meriten sammeln zu können? Und selbst wenn Sie es schaffen … Wie soll es für Sie als Resident weitergehen? Die letzte Stufe ist die schwierigste, das wissen Sie. Sie müssten bei Ihren Untersuchungen des Finalen Evolutionskollaps entscheidende Durchbrüche erzielen, um den Sprung ganz nach oben zu schaffen. Auch wenn Sie derzeit glauben, auf dem richtigen Weg zu sein … Es können sich immer neue Probleme ergeben.«
    Esebian hörte die kaum verhohlene Drohung und unternahm einen letzten Versuch. »Ich verstehe nicht, was Sie meinen. Vielleicht verwechseln Sie mich mit jemanden. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden … Ich möchte mir die neuesten Daten ansehen.« Er stand auf.
    Nur Tirrhels Augen bewegten sich; der Rest von ihm

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