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Kinder der Nacht

Kinder der Nacht

Titel: Kinder der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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und zog die schweren Vorhänge zurück. Helles Abendlicht strömte in den Raum, wahrscheinlich zum erstenmal seit Jahrzehnten.
    Kate blinzelte und rieb sich die Augen.
    »Es wird Zeit, Feierabend zu machen, Doktor Neuman«, sagte der Priester. »Ich würde Sie gerne auf dem Heimweg begleiten.«
    »Das ist nicht nötig ...«, begann Kate und versuchte, wieder Wut wegen der Anmaßung des Mannes zu verspüren, brachte aber keine zustande. Sie spürte, wie ihre Emotionen leerliefen wie eine verbrauchte Batterie. »Na gut«, sagte sie.
    Er ging mit ihr aus dem Krankenhaus und in den Bukarester Abend hinaus.

Kapitel 8
     
    Normalerweise ließ sich Kate nach Einbruch der Dunkelheit von einem Taxi nach Hause bringen, aber an diesem Abend gingen sie zu Fuß. Kate blinzelte, als sie das fahle Abendlicht bemerkte, das auf die Fassaden der Häuser gemalt zu sein schien. Ihr war, als hätte sie Bukarest noch nie zuvor gesehen.
    »Sie wohnen also nicht in einem der Hotels?« fragte der Priester.
    Kate schüttelte sich aus ihrer Betrachtung. »Nein, die Stiftung hat in der Ştirbei Vodă ein kleines Apartment für mich gemietet.« Sie nannte ihm die Adresse.
    »Ah«, sagte Pater O'Rourke, »das ist ganz in der Nähe von Cişmigiu.«
    »In der Nähe wovon?« sagte Kate. Das letzte Wort hatte sich beinahe wie ein Niesen angehört.
    »Cişmigiu-Park. Einer meiner Lieblingsplätze in der Stadt.«
    Kate schüttelte den Kopf. »Habe ich nie gesehen.« Sie lächelte verkrampft. »Aber ich habe überhaupt nicht viel gesehen, seit ich hier angekommen bin. Ich habe mir drei Tage im Krankenhaus frei genommen, aber die habe ich verschlafen.«
    »Wann sind Sie hier angekommen?« fragte er. Kate bemerkte, daß er hinkte, als sie über den belebten Bălcescu-Boulevard gingen. Hier, auf den Nebenstraßen rings um die Universität, waren die Schatten dunkler, die Luft kühler.
    »Hmmm ... am vierten April. O Gott.«
    »Ich weiß«, sagte Pater O'Rourke. »In diesem Krankenhaus kommt einem ein Tag wie eine Woche vor. Und eine Woche wie eine Ewigkeit.«
    Sie hatten gerade den großen Platz an der Calea Victoriei erreicht, als Kate stirnrunzelnd stehenblieb. »Was haben wir heute für einen Tag?«
    »Den fünfzehnten Mai«, sagte der Priester. »Mittwoch.«
    Kate rieb sich das Gesicht und blinzelte. Ihre Haut fühlte sich wie betäubt an. »Ich habe CDC versprochen, daß ich am zwanzigsten wieder dort sein würde. Sie haben mir die Tickets geschickt. Ich hatte ganz vergessen, wie bald ...« Sie schüttelte wieder den Kopf und sah sich auf der Plaza um, wo noch dichter Feierabendverkehr herrschte. Hinter ihnen ragte die völlig in Gerüste gekleidete Kirche Creţculescu auf, an deren rußiger Fassade man noch die Einschußlöcher erkennen konnte. Der Palast der Republik auf der anderen Seite der piaţa war stärker beschädigt worden. Lange rot- und weißgestreifte Banner hingen über dem Säuleneingang, aber die Türen und zerschmetterten Fenster waren vernagelt. Das Athenée Palace Hotel rechts von ihnen war zwar geöffnet, aber die Fenster leer, die Einschußlöcher sahen aus wie frische Narben auf der Haut eines Heroinsüchtigen.
    »CDC«, sagte Pater O'Rourke. »Kommen Sie aus Atlanta?«
    »Boulder, Colorado«, sagte Kate. »Die hohen Tiere sitzen immer noch in Atlanta, aber es heißt schon seit mehreren Jahren Centers for Disease Control. Die Niederlassung in Boulder ist noch ziemlich neu.«
    Sie überquerten die Calea Victoriei an der Ampel und schritten die Strada Ştirbei Vodă hinab, als schon drei Zigeunerbettler vor dem Hotel Bucureşti sie sahen, auf sie zugelaufen kamen, ihnen Babys entgegenstreckten, Kate auf die Schulter klopften und sagten: »Por la bambina ... Por la bambina ...«
    Kate hob erschöpft die Hand, aber Pater O'Rourke holte für jeden Kleingeld heraus. Die Zigeunerin verzog das Gesicht, als sie die Münzen sah, schnappte etwas in einem Dialekt und eilte wieder zu ihrem Platz vor dem Hotel. Die Geldwechsler in ihren Bluejeans und Ledermänteln sahen gleichgültig zu.
    Ştirbei Vodă war eine schmalere Straße, aber immer noch voll von billigen Dacias und den Mercedes und BMWs der Geldwechsler, die auf Kopfsteinpflaster und abgenutztem Asphalt dicht gedrängt vorbeirumpelten. Kate bemerkte wieder das leichte Hinken des Priesters, beschloß aber, ihn nicht danach zu fragen. Statt dessen sagte sie: »Wo liegt Ihre Heimat?« Sie hatte überlegt, ob sie Pater hinzu fügen sollte, aber das kam ihr nicht so einfach über die

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