Kinder der Nacht
heraufkommen, um mich zu betrachten wie eine Mumie im Museum, wie einen einbalsamierten Lenin, der eingefallen und vergilbt in seiner Gruft ruht, und um den Ring und das Medaillon vom Orden des Drachen zu küssen.
Ich schließe die Augen und gestatte mir, in Träume zu versinken.
Ich spüre, wie sie über mir schweben, diese Träume von vergangenen Zeiten, Träume von manchmal glücklicheren Zeiten, und allzuoft Träume von schrecklichen Zeiten. Ich spüre ihre Last, die Last dieser Träume von Blut und Eisen.
Ich schließe die Augen und ergebe mich ihnen, ich träume unruhig, während meine letzten Tage durch meinen Geist Revue passieren und vorüberschlurfen wie die neugierigen und trauernden Mitglieder meiner Familie der Nacht.
Kapitel 7
Dr. Kate Neuman hatte den Punkt erreicht, wo sie es einfach nicht mehr ertragen konnte. Sie verließ die Kinderstation, ging an der Quarantänestation vorbei, wo sich die acht Patienten mit Hepatitis B erholten, blieb gerade lange genug vor dem ungekennzeichneten Sterbesaal für Säuglinge stehen, daß sie durch das Fenster sehen und mit der Faust gegen den Türrahmen schlagen konnte, und schritt dann rasch weiter zum Aufenthaltsraum der Ärzte.
Die Flure des Krankenhauses im Ersten Bezirk von Bukarest erinnerten Kate an eine alte Fabrik in Massachusetts, wo sie eines Sommers gearbeitet hatte, um etwas Geld für ihr Studium in Harvard beiseite legen zu können; die Flure dort hatten dieselbe schmutzige grüne Farbe gehabt, denselben rissigen und dreckigen Linoleumfliesenboden, dieselben widerlichen Neonröhren, die tiefes Dunkel zwischen Flecken fahlen Lichts hinterließen, und dieselbe Art von Männern waren mit Bartstoppeln im Gesicht und überheblichen, diskriminierenden Seitenblicken schlurfend dort entlanggegangen.
Kate Neuman hatte genug. Es war sechs Wochen her, seit sie im Rahmen einer ›kurzen Unterrichtsreise‹ nach Rumänien gekommen war; es war achtundvierzig Stunden her, seit sie zum letztenmal geschlafen hatte, und fast vierundzwanzig Stunden, seit sie zum letztenmal duschen konnte; es waren Tage vergangen, seit sie zuletzt das Tageslicht gesehen hatte; es war erst Minuten her, seit sie mit ansehen mußte, wie das letzte Baby gestorben war, und Kate Neuman hatte genug.
Sie rauschte durch die Tür des Ärztezimmers, blieb schwer atmend stehen und betrachtete die verblüfften Gesichter, die von dem zerschlissenen Sofa und dem langen Tisch zu ihr aufsahen. Die Ärzte waren überwiegend Männer mit blassen Gesichtern, viele mit schmutzigen Ärztekitteln und struppigen Schnurrbärten. Sie machten einen verschlafenen Eindruck, aber Kate wußte, daß es nicht an Überstunden auf den Stationen lag; die meisten dieser Ärzte legten Freistunden ein und kamen nur durch das, was im nachrevolutionären Bukarest als Nachtleben galt, um ihren Schlaf. Kate sah Bluejeans am anderen Ende des Sofas und verspürte einen Augenblick eine Woge der Erleichterung darüber, daß ihr rumänischer Freund und Dolmetscher Lucian wieder da war, aber als der Mann sich nach vorn beugte, konnte sie sehen, daß es sich doch nicht um Lucian handelte, sondern nur um den amerikanischen Priester, den die Kinder ›Pater Mike‹ nannten, und Kates Zorn schlug wieder wie eine schwarze Woge über ihr zusammen. Sie stellte fest, daß Mr. Popescu, der Leiter des Krankenhauses, beim Wasserspender stand, und ging auf ihn zu. »Wir haben heute nachmittags wieder ein Kind verloren. Wieder ein Baby tot. Sinnlos gestorben, Mr. Popescu.«
Der pummelige Verwaltungsdirektor sah sie blinzelnd an und rührte seinen Tee um. Kate wußte, daß er sie verstand.
»Möchten Sie nicht wissen, warum es gestorben ist?« fragte Kate den kleinen Mann.
Zwei der Kinderärzte stahlen sich Richtung Tür davon, aber Kate versperrte den Ausgang und hielt eine Hand hoch wie ein Verkehrspolizist. »Das sollten alle hören«, sagte sie leise. Sie hatte Mr. Popescu nicht aus den Augen gelassen. »Möchte niemand wissen, weshalb wir heute wieder ein Kind verloren haben?«
Der Direktor leckte sich die Lippen. »Dr. Neuman ... Sie sind ... möglicherweise ... sehr müde, ja?«
Kate fixierte ihn mit ihrem Blick. »Wir haben das kleine Mädchen auf Station neun verloren«, sagte sie mit einer Stimme, die so ausdruckslos wie ihr Blick war. »Sie ist gestorben, weil jemand unachtsam eine IV angebracht hat ... eine ganz stinknormale Scheiß-IV ... und die dicke Schwester mit dem Knoblauchatem hat dem Kind ein Luftbläschen ins
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