Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kinder der Nacht

Kinder der Nacht

Titel: Kinder der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
Vom Netzwerk:
doppeltes Kreuz geschlungen. Auf dem Kreuz standen die beiden Leitsprüche des Ordens: »O quam misericors est Deus« (O wie barmherzig ist Gott) und »Justus et Pius« (Gerecht und gottesfürchtig).
    Mein Vater war am 8. Februar 1431 in den Orden aufgenommen worden - ein Jahr vor meiner Geburt. Als Draconist - ein Anhänger von Draco, wie Drache auf lateinisch heißt - trug mein Vater seine Wahrzeichen auf dem Schild und ließ sie auf seine Münzen prägen. So wurde er Vlad Dracul, wobei dracul in meiner Muttersprache sowohl Drache wie auch Teufel heißt.
    Dracula bedeutete schlicht und einfach ›Sohn des Drachen‹. Der eine der Dobrin-Brüder legte mir das Medaillon um den Hals. Ich spürte, wie das Gewicht des Goldes mich nach unten ziehen wollte. Das runde Dutzend Männer in dem Raum sang einen kurzen Psalm, dann stellten sie sich in einer Reihe auf, küßten meinen Ring und kehrten auf ihre Plätze zurück.
    »Ich bin müde«, sagte ich. Meine Stimme klang wie das Rascheln von uraltem Pergament.
    Da stellten sie sich um mich herum auf und zogen mir das Medaillon und den teuren Anzug aus. Sie kleideten mich behutsam in ein Nachtgewand aus Leinen, und Dobrin zog das Leinenbettuch zurück. Ich ließ mich dankbar auf dem Bett nieder und legte mich auf die hohen Kissen.
    Radu Fortuna kam näher. »Sie sind gekommen, um zu sterben, Vater.« Es war keine Frage. Ich besaß weder die Energie noch sah ich die Notwendigkeit zu nicken.
    Ein alter Mann, bei dem es sich um einen Überlebenden der anderen Dobrin-Brüder handeln konnte, kam näher, sank auf ein Knie, küßte wieder meinen Ring und sagte: »Ist es demnach an der Zeit, Vater, über Geburt und Investitur des neuen Fürsten nachzudenken?«
    Ich sah den Mann an und dachte, daß der Vlad Ţepeş des Porträts über mir ihn wegen der unverblümten Frage ausgeweidet oder gepfählt haben würde.
    Statt dessen nickte ich.
    »So soll es geschehen«, sagte Radu Fortuna. »Die Frau und ihre Hebamme wurden bereits erkoren.«
    Ich machte die Augen zu und unterdrückte ein Lächeln. Das Sperma war schon vor vielen Jahrzehnten gesammelt und für fruchtbar befunden worden. Ich konnte nur hoffen, daß sie es in dieser unzulänglichen, gottverlassenen Nation, wo nicht einmal die Hoffnung gedeihen wollte, gut konserviert hatten. Ich wollte die derben Einzelheiten der Auswahl und Befruchtung gar nicht wissen.
    »Wir werden mit den Vorbereitungen für die Befruchtung beginnen«, sagte ein alter Mann, den ich einmal als den jugendlichen Prinzen Mihnea gekannt hatte.
    Seine Stimme klang nicht drängend, und mir war klar, daß dazu auch keine Veranlassung bestand. Selbst mein Sterben würde langsam vonstatten gehen. Die Krankheit, die ich vor so langer, langer Zeit willkommen geheißen hatte, würde mich nicht so schnell freigeben. Selbst jetzt noch, runzlig und vom Alter gezeichnet, beherrschte die Krankheit mein Leben und widersetzte sich den ersehnten Forderungen des Todes.
    Nach diesem Tag werde ich kein Blut mehr trinken. Das ist meine Entscheidung, und sie ist unwiderruflich. Ich bin in dieses Haus zurückgekehrt, in dieses Bett, und beides werde ich freiwillig nicht mehr verlassen.
    Aber selbst wenn ich faste, wird die unerbittliche Fähigkeit meines Körpers zur Heilung, zur Lebensverlängerung mit dem Wunsch zu sterben ringen. Vielleicht werde ich ein Jahr oder zwei Jahre oder sogar noch länger auf diesem Totenbett liegen, bevor meine Seele und der unbarmherzige, tief in den Zellen verwurzelte Zwang weiterzumachen sich der unvermeidlichen Notwendigkeit aufzuhören ergeben.
    Es ist mir bestimmt zu leben, bis der neue Fürst geboren und eingeführt ist, wie viele Monate oder Jahre bis dahin auch verstreichen werden.
    Aber dann werde ich nicht mehr der gealterte, aber vitale Vernor Deacon Trent sein; ich werde lediglich die mumifizierte Karikatur des Mannes mit dem seltsamen Gesicht auf dem Porträt über meinem Bett sein.
    Ich lege mich tiefer in die Kissen zurück, und meine gelblichen Finger wirken zerbrechlich auf dem Laken. Ich öffne die Augen nicht, als die ältesten Mitglieder der Familie - einer nach dem anderen - an mir vorbeiziehen, um meinen Ring ein letztes Mal zu küssen, worauf sie aufstehen und draußen auf dem Flur tuscheln und murmeln wie Bauern bei einer Beerdigung.
    Unten, auf den uralten Stufen des Hauses, in dem ich geboren wurde, höre ich leises Schlurfen und Ächzen, als andere Mitglieder der Familie - in langen Schlangen - in ehrfürchtigem Schweigen

Weitere Kostenlose Bücher