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Kinder der Nacht

Kinder der Nacht

Titel: Kinder der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Lippen.
    Der Priester lächelte gepreßt. »Nun, der Orden, für den ich arbeite, hat seinen Sitz in Chicago, und für diese Reise bekomme ich meine Anweisungen von der Erzdiözese in Chicago, aber es ist eine Weile her, seit ich zum letztenmal dort war. In den letzten Jahren habe ich viel Zeit in Süd- und Mittelamerika verbracht. Davor in Afrika.«
    Kate sah nach links, erkannte die Straße namens 13 Decembrie und wußte, sie war nur noch einen oder zwei Blocks von ihrer Wohnung entfernt. Bei Tage und zu Fuß sah die Straße ganz anders aus. »Demnach sind Sie gewissermaßen ein Experte für die dritte Welt«, sagte sie und erfreute sich am Klang der englischen Sprache, obwohl sie eigentlich zu müde war, der Unterhaltung zu folgen.
    »Sozusagen«, antwortete Pater O'Rourke.
    »Und haben Sie sich auf Waisenhäuser rund um die Welt spezialisiert?«
    »Eigentlich nicht. Wenn ich überhaupt ein Spezialgebiet habe, dann sind es Kinder. Die findet man eben in Waisenhäusern und Kliniken am ehesten.«
    Kate gab einen zustimmenden Laut von sich. Einige Kastanienbäume an der Straße fingen das letzte gespiegelte Licht von den Gebäuden an der Ostseite der Straße auf und schienen in eine goldorangefarbene Korona gehüllt zu sein. Die Luft war schwanger von den Gerüchen, die für jede osteuropäische Stadt typisch sind - ungereinigte Autoabgase, Abwasser, faulender Müll -, aber die leichte Abendbrise brachte auch einen Hauch von Grün und frischen Blüten mit sich.
    »Ist es die ganze Zeit, seit ich hier bin, so schön gewesen? Ich kann mich nur daran erinnern, daß es kalt und regnerisch war«, sagte Kate leise.
    Pater O'Rourke lächelte. »Seit dem ersten Mai herrschen hier sommerliche Temperaturen«, sagte er. »Die Bäume der Alleen nördlich von hier sind wunderschön.«
    Kate blieb stehen. »Nummer fünf«, sagte sie. »Das ist mein Wohnkomplex.« Sie streckte die Hand aus. »Vielen Dank für den Spaziergang und das Gespräch ... äh, Pater.«
    Der Priester sah sie an, ohne ihre Hand zu schütteln. Sein Gesichtsausdruck wirkte ein wenig verwirrt, aber nicht ihretwegen, sondern fast so, als würde er eine stumme Diskussion mit sich selbst führen. Kate bemerkte zum erstenmal, wie erstaunlich klar seine grauen Augen waren.
    »Der Park liegt genau dort«, sagte Pater O'Rourke und deutete die Ştirbei Vodă hinab. »Keinen Block entfernt. Der Eingang ist leicht zu übersehen, wenn man nicht schon weiß, daß er sich dort befindet. Ich weiß, Sie sind erschöpft, aber ...«
    Kate war erschöpft und in miserabler Laune und trotz seiner wunderschönen Augen nicht im geringsten angetan von diesem zölibatären Priester in seinen Reeboks. Nichtsdestotrotz war dies die erste nichtmedizinische Unterhaltung seit Wochen für sie, und sie stellte zu ihrer eigenen Überraschung fest, daß sie sie nicht beenden wollte. »Einverstanden«, sagte sie. »Zeigen Sie ihn mir.«
    Der Cişmigiu-Park erinnerte Kate daran, wie sie sich den Central Park in New York vor Jahrzehnten vorgestellt haben würde, bevor dieser seine Nächte der Gewalt und seine Tage dem Lärm preisgegeben hatte: Cişmigiu war eine wahrhaftige städtische Oase, ein verborgenes Tal mit Bäumen und Wasser und Schatten von Laub und Blumen.
    Sie betraten ihn durch ein schmales Tor in einem hohen Zaun, das Kate noch nie aufgefallen war, gingen eine Treppe zwischen hohen Felsen hinunter und gelangten in einen Irrgarten von asphaltierten Wegen und Kopfsteinpflasterpfaden. Der Park war groß, aber sämtliche Abschnitte anheimelnd: hier ein Bach, der unter einer bogenförmigen Brücke verlief und sich dort zu einer schattigen Lagune verbreiterte; eine langgezogene Wiese - ungepflegt und scheinbar unberührt von Sense und Sichel eines Gärtners, aber voll von Wildblumen; ein Spielplatz, wo es von Kindern wimmelte, die noch für den gerade vergangenen Winter gekleidet waren; lange Bänke, auf denen Großeltern saßen und den Kindern beim Spielen zusahen; Tische und Bänke aus Stein, wo Männer in Gruppen anderen Männern beim Schachspielen zusahen; ein Inselrestaurant in buntem Licht; Gelächter, das über das Wasser hallte.
    »Wunderschön«, sagte Kate. Sie waren um die Ostseite der Lagune herumgegangen, am Lärm des Spielplatzes vorbei, hatten eine Brücke aus Betonpfosten und Ästen überquert und verweilten dort, um Pärchen zu beobachten, die unten auf dem Bach ruderten.
    Pater O'Rourke nickte und lehnte sich an das Geländer. »Es ist immer zu leicht, nur eine Seite

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