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Kinder der Nacht

Kinder der Nacht

Titel: Kinder der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Sie sah die uralte Festung auf dem Berg und eine breite Mauer, die zu einem Turm am Flußufer führte, der noch älter aussah.
    »Dort wurde unser Freund Vlad Dracula von 1462 bis 1474 gefangengehalten«, sagte der Priester. »König Matthias ließ ihn den größten Teil seiner letzten Lebensjahre unter Hausarrest stellen.«
    Kate wirbelte auf dem Stuhl herum und sah, wie die alte Mauer und der Turm rechts zurückblieben. Sie sah immer noch hin, als die Feste nicht mehr zu sehen war. Schließlich drehte sie sich wieder zu ihrem Begleiter um. »Also halten Sie mich nicht für vollkommen verrückt, weil ich mich für die Familie Dracula interessiere? Sagen Sie mir die Wahrheit, O'Rourke.«
    »Ich finde nicht, daß Sie vollkommen verrückt sind«, sagte er. »Nicht vollkommen.«
    Kate versuchte ein Lächeln. »Verraten Sie mir etwas«, sagte sie.
    »Gerne.«
    »Warum wissen Sie soviel über so vieles? Sind Sie schon immer so klug gewesen?«
    Der Priester lachte - ein ungezwungenes, aufrichtiges Geräusch, das Kate, wie sie feststellen mußte, gern hörte - und kratzte seinen kurzen Bart. »Ahh, Kate ... wenn Sie nur wüßten.« Er sah einen Moment zum Fenster hinaus. »Ich wuchs in einer kleinen Stadt mitten in Illinois auf«, sagte er schließlich. »Und viele meiner Jugendfreunde waren echt klug.«
    »So muß es wohl sein, wenn zu diesen Kleinstadtkumpeln Senator Harlen und dieser Schriftsteller gehören«, sagte Kate.
    O'Rourke lächelte. »Ich könnte Ihnen einiges über Harlen erzählen, aber Sie haben schon recht, wir hatten ein paar wirklich kluge Jungs in unserer kleinen Gruppe. Ich hatte einen Freund namens Duane, der ... aber das ist eine andere Geschichte. Wie dem auch sein, ich war der Dummkopf der Gruppe.«
    Kate verzog das Gesicht.
    »Nein, im Ernst«, sagte der Priester. »Heut weiß ich, daß ich eine Lernstörung hatte - wahrscheinlich ein leichter Fall von Dyslexie -, aber die Folge war, daß ich in der vierten Klasse sitzenblieb, den Anschluß an meine sämtlichen Freunde verlor und mich jahrelang fühlte wie ein Idiot. Die Lehrer haben mich auch so behandelt.« Er verschränkte die Arme und hatte den Blick nach innen auf eine private Erinnerung gerichtet. Er lächelte. »Nun, meine Familie hatte nicht genügend Geld, mich aufs College zu schicken, aber nach Vietnam - nach dem Veterans' Hospital, sollte ich sagen -, konnte ich mit dem G.I.-Gesetz die Bradley University besuchen und anschließend das Seminar. Ich glaube, seither habe ich ununterbrochen gelesen, um diese frühen Jahre wettzumachen.«
    »Und warum das Seminar?« fragte Kate leise. »Warum die Priesterschaft?«
    Darauf folgte ein längeres Schweigen. »Das ist schwer zu erklären«, sagte O'Rourke schließlich. »Ich weiß bis auf den heutigen Tag nicht, ob ich überhaupt an Gott glaube.«
    Kate blinzelte überrascht.
    »Aber ich weiß, daß das Böse existiert«, fuhr der Priester fort. »Das habe ich schon früh gelernt. Und ich war stets der Meinung, daß irgend jemand ... eine Gruppe ... ihr Möglichstes tun sollte, dieses Böse aufzuhalten.« Er grinste wieder. »Ich glaube, viele von uns Iren denken so. Darum werden wir Polizisten oder Priester oder Gangster.«
    »Gangster?« sagte Kate.
    Er zuckte die Achseln. »Wenn du sie nicht besiegen kannst, werd' einer von ihnen.«
    Eine Frauenstimme verkündete über Bordfunk, daß sie sich Budapest näherten. Kate sah Bauernhäuser und Villen auftauchen, die größeren Gebäuden wichen, und schließlich die Stadt selbst. Das Tragflügelboot bremste ab und sank von den vorderen Luftkissen herunter: sie schaukelten im Kielwasser von Booten und anderem Schiffsverkehr.
    Budapest besaß möglicherweise die schönste Uferpromenade, die Kate je gesehen hatte. O'Rourke deutete auf sechs anmutige Brücken über die Donau, die bewaldete Fläche von Margitsziget - der Margaretheninsel -, die den Fluß teilte, und dann zur prachtvollen Stadtkulisse selbst - das alte Buda ragte hoch am Westufer empor, das jüngere, wimmelnde Pest erstreckte sich nach Osten. O'Rourke hatte ihr das wunderschöne Parlamentsgebäude auf der Pest-Seite gezeigt und beschrieb gerade den Schloßberg auf der Seite von Buda, als Erschöpfung und Ohnmacht plötzlich wie eine gewaltige Flut über Kate hinwegspülten. Sie machte einen Moment die Augen zu und verspürte ein Gefühl von Traurigkeit, Sinnlosigkeit und die todsichere Gewißheit, daß sie für immer und ewig in Raum und Zeit verloren war.
    O'Rourke hörte sofort auf zu

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