Kinder der Nacht
war uralt. Das merkte man gleich an seiner Haltung, der Krümmung der Wirbelsäule, dem wie geschrumpften Körper in zu großer Kleidung. Das Gesicht konnte man gerade über den Aufschlägen eines teuren Mantels und unter der schmalen Krempe eines Homburgs erkennen. Doch obwohl das Gesicht von Alter gezeichnet und entstellt war, war es ein bekanntes Gesicht; ohne Schnurrbart, aber mit der breiten Unterlippe, dem vorstehenden Kiefer, den im Schädel eingesunkenen, aber immer noch vage hyperthyroiden Augen.
»Wer ist das?« flüsterte Kate.
O'Rourke steckte die Fotos wieder in die Manteltasche. »Ein Mann, mit dem ich vor fast zwei Jahren zum ersten Mal nach Rumänien gereist bin ... ein Mann, dessen Namen Sie wahrscheinlich schon einmal gehört haben.«
Zwei Männer begannen lautstark in Deutsch unmittelbar hinter O'Rourkes Stuhl zu streiten. Ein Mann und eine Frau, Amerikaner, wie man ihrer Freizeitkleidung entnehmen konnte, standen drei Schritte entfernt, beobachteten Kate und den Priester und warteten offenbar ungeduldig auf den Tisch.
O'Rourke stand auf und hielt ihr die Hand hin. »Kommen Sie. Ich kenne ein ruhigeres Plätzchen.«
Kate hatte schon Bilder von dem großen Riesenrad gesehen, wie jedermann. Aber wenn man es in Wirklichkeit vor sich sah, wirkte es irgendwie noch bezaubernder. Sie und O'Rourke waren die einzigen Passagiere in der geschlossenen Kabine, in der gut und gerne zwanzig Menschen Platz gefunden hätten. In der Kabine hinter ihnen, die leer war, standen Eßtische mit Tischtüchern und Porzellan. Das Riesenrad beförderte ihre Kabine langsam in eine Höhe von sechzig Metern, zum höchsten Punkt, wo sie anhielten, als unten neue Passagiere einstiegen.
»Hübsche Jahrmarktsattraktion«, sagte Kate.
»Riesenrad«, sagte der Priester, der an einem Geländer lehnte und zum offenen Fenster hinaus auf das Herbstlaub sah, das im letzten Schein der abendlichen Dämmerung leuchtete. Kaum hatte er es gesagt, verschwand das Leuchten in den Wolken und der Himmel wurde fahl, dann dunkel. Die Kabine glitt lautlos weiter, an der Einstiegsrampe vorbei und dann wieder über die Baumwipfel hinaus.
Überall in Wien gingen die Lichter an. Die Türme der Kathedralen wurden plötzlich beleuchtet. Kate konnte die modernen Türme der UNO-City Richtung Donau sehen; Susan McKay Chandra hatte Kate einmal geschildert, wie aufregend es war, dort im Hauptquartier der United Nations Commission for Infectous Diseases an einer Konferenz teilzunehmen.
Kate zuckte zusammen, machte einen Moment die Augen zu und sah dann O'Rourke an. »Na gut, erzählen Sie mir von diesem Mann.«
»Vernor Deacon Trent. Haben Sie den Namen schon gehört?«
»Klar. Ein menschenscheuer Milliardär à la Howard Hughes, der sein Vermögen mit ... was? ... Haushaltsgeräten gemacht hat? Hotels? In der Nähe von Big Sur wurde ein großes Kunstmuseum nach ihm benannt.« Kate zögerte. »Ist er nicht letztes Jahr gestorben?«
O'Rourke schüttelte den Kopf. Die Kabine sank wieder nach unten; die Geräusche der wenigen noch fahrenden Karussells drangen deutlicher zum offenen Fenster herein. Ihre Kabine stieg wieder höher. »Mr. Trent hat das Unternehmen bezahlt, bei dem ich und einige andere Leute - ein hohes Tier von der WHO, der verstorbene Leonard Paxley aus Princeton und andere Schwergewichte - gleich nach der Revolution nach Rumänien gekommen sind. Ich meine gleich danach. Ceauşescu war noch nicht einmal kalt. Wie dem auch sei, ich kehrte im Februar letzten Jahres - 1990 - in die Staaten zurück, um zu versuchen, mit Unterstützung der Kirche Spenden für die Waisenhäuser da drüben aufzutreiben, und bevor ich Chicago im Mai dieses Jahres verließ, las ich in der Zeitung, daß Mr. Trent einen Schlaganfall erlitten hatte und sich irgendwo in Kalifornien in aller Abgeschiedenheit aufhielt. Aber als ich ihn zum letzten Mal gesehen habe, war er immer noch in Rumänien.«
»Das stimmt«, sagte Kate. »In Time stand ein Artikel über den Firmenstreit um die Übernahme seines Imperiums. Er war bettlägerig, aber nicht tot.« Sie erschauerte in der plötzlich kalten Brise.
O'Rourke zog das Fenster fast ganz zu. »Soweit ich weiß, ist er immer noch nicht gestorben. Aber schon als wir zum ersten Mal Bukarest besuchten, fiel mir auf, wie groß die Ähnlichkeit zwischen Mr. Vernor Deacon Trent und dem alten Porträt von Vlad Ţepeş ist.«
»Familienähnlichkeit«, sagte Kate.
Der Priester nickte.
»Aber das Gemälde, das wir heute gesehen
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