Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kinder der Nacht

Kinder der Nacht

Titel: Kinder der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
Vom Netzwerk:
reden und berührte sie sanft am Arm. Die Maschinen des Tragflügelboots dröhnten leise, als sie bremsten und ein Pier auf der Pest-Seite des Flusses ansteuerten.
    »Wann treffen wir den Gesandten der Zigeuner?« fragte Kate, ohne die Augen aufzumachen.
    »Heute abend um sieben«, sagte O'Rourke, der sie weiter am Arm hielt.
    Kate seufzte, drängte die Woge der Hoffnungslosigkeit so weit zurück, daß sie wieder atmen konnte, und sah den Priester an. »Ich wünschte, es wäre früher«, sagte sie. »Ich möchte aufbrechen, ich möchte es hinter mich bringen.«
    O'Rourke nickte und sagte nichts mehr, während das Tragflügelboot sich schwankend und rumpelnd dem Ende dieses Abschnitts ihrer Reise näherte.
     
    O'Rourke hatte Zimmer für sie in einem Novotel auf der Buda-Seite der Stadt gebucht, und Kate staunte über diese Insel westlicher Strebsamkeit inmitten dieses ehemaligen kommunistischen Landes. Bei Budapest mußte Kate daran denken, wie Bukarest - möglicherweise - in fünfundzwanzig Jahren aussehen könnte, wenn der Kapitalismus dort weiterhin Fortschritte machte. Kate, die sich nie für Wirtschaftswissenschaften interessiert hatte, kam mit einem Mal die wenn auch noch so naive Einsicht, daß der Kapitalismus, oder zumindest die Komponente individueller Initiative, jenen Lebensformen glich, die selbst in den kärgsten ökologischen Nischen Fuß faßten und mit der Zeit - voilà! - ein üppiges Wachstum allen Lebens erreichten. In diesem Falle, wußte sie, würde das Wachstum zunehmen und sich vervielfachen, bis das Gleichgewicht von alt und neu, öffentlich und kommerziell, ästhetisch befriedigend und genormt mittelmäßig, zerstört sein würde und all die langweiligen, gleichmacherischen Nebenprodukte des Kapitalismus Budapest das Aussehen aller anderen Großstädte der Welt verleihen würden.
    Aber im Augenblick schien in Budapest noch ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen dem Respekt für das Erbe und dem Interesse am allmächtigen Dollar zu herrschen - oder Forint, wie auch immer. CNN und Hertz und alle üblichen ersten Knospen des Kapitalismus waren da, aber selbst im Verlauf der kurzen Taxifahrt durch die Stadt hatte Kate eine reichhaltige Mischung von alt und neu wahrgenommen. O'Rourke erwähnte, daß sämtliche Brücken und der Palast auf dem Schloßberg im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen gesprengt oder bei Kampfhandlungen zerstört worden waren, und daß die Ungarn alles liebevoll wiederaufgebaut hatten.
    In ihrem Zimmer, wo sie zum Fenster hinaus auf einen Abschnitt der Autobahn sah, bei der es sich um einen amerikanischen Highway hätte handeln können, rieb sich Kate den Kopf und sah ein, daß dieses scheinbare Interesse an Nebensächlichkeiten nur eine Methode war, sich von der dunklen Flut abzulenken, die immer noch gegen ihre Emotionen brandete. Von dieser Flut und von der Angst vor ihrer bevorstehenden Rückkehr nach Rumänien.
    Sie stellte überrascht fest, daß die wirklich Angst vor dem hatte, was vor ihr lag - Angst vor der transsilvanischen Dunkelheit, die sie in den Krankenhäusern und Waisenhäusern dieser kalten Nation gesehen hatte -, und nach dieser kurzen, stechenden Erkenntnis der eigenen Angst verspürte sie einen winzigen Funken Hoffnung, daß es einen Weg geben würde, auf dem sie zu einem Ort gelangen konnte, wo noch andere Empfindungen als Trauer, Schock, Hoffnungslosigkeit und die grimmige Entschlossenheit, wiederzuerlangen, was nicht wiedererlangt werden konnte, zu finden sein würden.
    Es klopfte an der Tür.
    »Fertig?« fragte O'Rourke. Seine Fliegerjacke war rissig und abgetragen, und jetzt bemerkte Kate zum ersten Mal, daß sich in dem Netz der Lachfältchen um die Augen des Priesters herum auch winzige Narben befanden. »Ich habe mir gedacht, wir könnten ein leichtes Essen hier im Hotel zu uns nehmen und dann gleich zu dem Treffen gehen.«
    Kate holte tief Luft, holte ihren Mantel und schlang sich die Handtasche über die Schulter. »Fertig«, sagte sie.
     
    Sie sprachen während der kurzen Taxifahrt zum Clark Adam Ter, dem Kreisverkehr am westlichen Ende der Kettenbrücke und direkt unterhalb der Mauern des Schloßbergs nicht miteinander. O'Rourke sagte immer noch nichts, als sie mit der Seilbahn den steilen Hügel zum Gelände des Königspalastes selbst hinauffuhren.
    »Schauen wir uns die Sehenswürdigkeiten an«, sagte er leise, als sie aus der Kabine stiegen. Er nahm ihren Arm und führte sie an hellen Straßenlampen vorbei auf ein riesiges

Weitere Kostenlose Bücher