Kinder der Nacht
versuchte, das Porträt ohne medizinische Vorbehalte zu betrachten. »Nein«, sagte sie schließlich, »Grausamkeit sehe ich in diesen Augen nicht unbedingt ... Arroganz auf jeden Fall, aber immerhin war er ein Fürst.«
»Woiwode der Walachei«, stimmte O'Rourke zu. »Das ist das wirklich Beängstigende an den Grausamkeiten von Vlad dem Pfähler - damals gehörten sie mehr oder weniger zur Tagesordnung. So konnten Prinzen Prinzen bleiben.« Er drehte sich um und sah Kates faszinierten Blick. »Glauben Sie wirklich, daß Bela Lugosi hier etwas mit der Krankheit von Joshua zu tun haben könnte?«
Kate schützte ein Lächeln vor. »Albern, was? Aber Sie haben ja die medizinische Beschreibung des immunrekonstruierenden Prozesses gehört, dessen sich die Krankheit bedient. Das Trinken von Blut. Verlängerte Lebensspanne. Erstaunliche Genesungsfähigkeiten - fast so etwas wie Autotomie.«
»Was ist Autotom ... wie auch immer?«
»Autotomie ist die Fähigkeit mancher Reptilien, zum Beispiel Salamander, bei Gefahr den Schwanz abzuwerfen und wieder nachwachsen zu lassen«, sagte Kate. Wenn sie über medizinische Fragen nachdachte, hatte sie nicht so schlimme Kopfschmerzen. Dann ging auch die schwarze Flut der Trauer zurück. »Wir wissen nicht viel über die regenerativen Kräfte von Salamandern ... nur, daß sie auf Zellebene stattfindet und ungeheure Energiemengen erfordert.«
O'Rourke deutete mit dem Kopf zu dem Porträt. »Und Sie denken, Vlad könnte einen Salamander in seinem königlichen Stammbaum gehabt haben?«
Kate rieb sich die Stirn. »Es ist verrückt. Ich weiß, daß es verrückt ist.« Sie schloß einen Moment die Augen. In dem Museum hallten Schritte, Husten, Unterhaltungen in österreichisch, die sich so hart wie das Husten anhörten, und ab und zu Gelächter, das sich so irre anhörte, wie sie sich fühlte.
»Setzen wir uns«, sagte der Priester. Er nahm ihren Arm und führte sie zu einem Bereich der Kuppelhalle, wo es Kaffee und Kuchen gab. Er suchte einen Tisch abseits vom Besucherstrom aus.
Kate war einen Augenblick schwindlig, sie kam erst wieder richtig zu sich, als der Priester sie drängte, noch einen Schluck des starken Wiener Kaffees zu nehmen. Sie konnte sich nicht erinnern, daß er ihn bestellt hatte.
»Sie glauben tatsächlich, die Dracula-Legenden könnten etwas mit Joshuas ... Abweichung zu tun haben?« Seine Stimme war kaum lauter als ein Flüstern.
Kate seufzte. »Ich weiß, es ergibt keinen Sinn ... aber wenn die Krankheit auf eine Familie beschränkt bliebe ... immerhin erfordert sie ein seltenes doppelt rezessives Gen, damit sie zum Ausbruch kommt ... und wenn die Befallenen Menschenblut brauchen, um zu überleben ...« Sie verstummte und sah den Gang entlang zu dem Saal, wo das Gemälde hing.
»Eine kleine königliche Familie«, fuhr O'Rourke fort, »die aufgrund der Natur ihrer Krankheit und ihrer Verbrechen auf Heimlichtuerei angewiesen ist, die über Macht und das erforderliche Geld verfügt, Feinde auszuschalten und ihr Geheimnis zu wahren ... sogar um Entführer nach Amerika zu schicken, damit sie ein Baby aus dieser Familie zurückbringen ... ein versehentlich adoptiertes Baby.«
Kate senkte den Blick. »Ich weiß. Es ist ... verrückt.«
O'Rourke trank seinen Espresso. »Ja«, sagte er. »Wenn man nicht gerade einer Kirche angehört, die seit Jahrhunderten eine geheime Korrespondenz über eben so eine böse und abgeschiedene Familie führt. Eine Familie, die ihren Ursprung vor einem halben Jahrtausend irgendwo in Osteuropa hatte.«
Kate hob ruckartig den Kopf. Ihr Herz klopfte bereits, und sie spürte den Anstieg des Blutdrucks als stechenden Schmerz in ihrem gepeinigten Schädel. Sie achtete nicht darauf. »Sie meinen ...«
O'Rourke stellte die Tasse weg und hob einen Finger. »Immer noch nicht genug, um eine Theorie aufzustellen«, sagte er. »Es sei denn ... es sei denn, man bezieht den seltsamen Zufall mit ein, daß man jemanden kennengelernt hat, der große Ähnlichkeit mit dem verstorbenen, unbeweinten Vlad Ţepeş hat.«
Kate konnte ihn nur ansehen.
O'Rourke griff in die Manteltasche und holte einen kleinen Umschlag mit Farbfotos heraus. Es waren alles in allem sechs Stück. Der Hintergrund zeigte unverkennbar Osteuropa ... eine dunkle Fabrikstadt ... die Straße eines mittelalterlichen Städtchens. Dacias parkten am Bordstein. Kate wußte intuitiv, daß das Foto in Rumänien gemacht worden war. Aber der Mann im Vordergrund weckte ihre Aufmerksamkeit.
Er
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