Kinder der Nacht
Leben war. Psst ...«
Kate betrat das Kirchenschiff, als plötzlich leise Orgelmusik fast zum Crescendo anschwoll. Sie blieb stehen, und im ersten Moment stockte ihr der Atem, als die ersten Akkorde von Bachs ›Tokkata und Fuge in d-Moll‹ in der weihrauchgeschwängerten Dunkelheit erklang.
Das Innere der Matthiaskirche wurde lediglich von einem Regal mit Votivkerzen rechts von der Tür und einer großen, rot leuchtenden Kerze auf dem Altar erhellt. Kate hatte den Eindruck von großem Alter: rußgeschwärzte Steine - aber bei dem Ruß konnte es sich auch nur um Schatten handeln - der massiven Säulen, ein neugotisches Buntglasfenster über dem Altar, dessen Farben nur vom blutroten Kerzenlicht beleuchtet wurden, dunkle Gobelins, die vertikal über den Gängen hingen, eine gewaltige Kanzel links vom Altar und nicht mehr als zehn oder zwölf Menschen, die in den schattigen Bankreihen saßen, während die Musik hallte und jauchzte.
O'Rourke führte sie durch einen offenen Raum im hinteren Teil der Kirche, mehrere Steinstufen hinab und blieb in der letzten Bankreihe im Schatten links hinter dem Sitzbereich im Kirchenschiff stehen. Kate setzte sich nur; O'Rourke beugte mit aus Übung geborener Anmut die Knie, bekreuzigte sich und setzte sich dann neben sie. Bachs Orgelmusik vibrierte weiter in der warmen, weihrauchschwangeren Luft. Nach ein paar Augenblicken beugte sich der Priester näher zu ihr. »Wissen Sie, warum Bach ›Tokkata und Fuge‹ geschrieben hat?«
Kate schüttelte den Kopf. Sie vermutete, zum Ruhme Gottes.
»Es war ein Stück, um die Pfeifen neuer Orgeln zu testen«, flüsterte O'Rourke.
Kate konnte im trüben roten Licht sein Grinsen sehen.
»Oder meinetwegen auch alter Orgeln«, fuhr er fort. »Bach wußte, wenn ein Vogel in einer der Pfeifen ein Nest gebaut hatte, würde dieses Stück es hinauspusten.«
In diesem Augenblick schwoll die Musik dergestalt an, daß Kate die Vibrationen in Zähnen und Knochen spüren konnte. Als es zu Ende war, konnte Kate einen Moment nur im Halbdunkel sitzen und nach Luft schnappen. Die wenigen anderen Anwesenden, ausnahmslos ältere Leute, standen auf, knicksten und gingen zur Seitentür hinaus. Kate sah über die Schulter, wie ein Priester mit weißem Bart in langer, schwarzer Soutane die Tür mit einem schweren Riegel versperrte.
O'Rourke berührte sie am Arm, worauf sie zum hinteren Teil des Kirchenschiffs zurückgingen. Der Priester mit dem weißen Bart breitete seine Arme aus, er und O'Rourke umarmten einander, und Kate sah die beiden blinzelnd an - den modernen Priester in seiner Fliegerjacke und den Jeans, den älteren Priester in Soutane, die ihm bis zu den Schuhspitzen reichte, und einem schweren Kruzifix, das ihm um den Hals baumelte.
»Pater Janos«, sagte O'Rourke, »dies ist meine teure Freundin Doktor Kate Neuman. Doktor Neuman, mein alter Freund Pater Janos Petofi.«
»Pater«, sagte Kate.
Kate fand, daß Pater Janos Petofi mit seinem weißen, geschnittenen Bart, den rosa Wangen und den strahlenden Augen ein bißchen wie der Nikolaus aussah, aber als der alte Mann ihre Hand ergriff, sich darüberbeugte und sie küßte, hatte das ganz und gar nichts vom Nikolaus an sich. »Hocherfreut, Sie kennenzulernen, Mademoiselle.« Sein Akzent hörte sich mehr Französisch als Ungarisch an.
Kate lächelte sowohl über den Handkuß wie auch die ehrenvolle Anrede, die ihr den Status einer jungen, unverheirateten Frau zuwies.
Pater Janos schlug O'Rourke auf den Rücken. »Michael, unser ... äh ... rumänischer Freund wartet schon.«
Sie folgten Pater Janos in den hinteren Teil der Kathedrale, durch einen schweren Vorhang, der als Tür diente, und eine Wendeltreppe aus Stein hinauf.
»Dein Spiel war erhebend, wie immer«, sagte O'Rourke zu dem anderen Priester.
Pater Janos lächelte über die Schulter. Seine Soutane raschelte auf den Steinstufen. »Äh ... eine Probe für das morgige Konzert für die Touristen. Die Touristen lieben Bach. Mehr als wir Organisten, fürchte ich.«
Sie betraten eine Chorempore zehn Meter über der dunklen Gruft der Kirche. Ein großer Mann saß am Ende der Reihe. Kate sah ein scharfgeschnittenes Gesicht mit Schnurrbart unter einer tiefgezogenen Mütze und einem hoch zugeknöpften Mantel.
»Ich bleibe, wenn du mich brauchst«, erbot sich Pater Janos.
O'Rourke berührte seinen Freund an der Schulter. »Nicht nötig, Janos. Wir unterhalten uns später.«
Der alte Priester nickte, verbeugte sich vor Kate und ging wieder die
Weitere Kostenlose Bücher