Kinder der Stürme
sie nichts dagegen unternehmen. Aber eines kann ich dir sagen, wenn du denjenigen findest, der den Überfall auf dich angezettelt hat, und du bringst ihn mit diesem Messer um, dann wirst du nicht länger Einflügler sein. Die Flieger werden dich als Gesetzlosen ansehen und dir die Flügel abnehmen, und kein Landmann in Windhaven wird auf deiner Seite stehen oder dir eine Landeerlaubnis erteilen, ganz gleich, ob Flieger gebraucht werden oder nicht.“
„Du willst, daß ich alles vergesse“, sagte Val. „Das alles vergessen?“
„Nein“, sagte Maris. „Finde die Täter und bringe sie zum Landmann, oder rufe eine Fliegerversammlung ein. Sorg dafür, daß dein Feind seine Flügel, sein Heim und sein Leben verliert und nicht du. Ist das wirklich eine so schlechte Alternative?“
Val lächelte ein wenig verzerrt, und Maris sah, daß er auch ein paar Zähne verloren hatte. „Nein“, sagte er. „Ich finde sie gut.“
„Du hast die Wahl“, sagte Maris. „Da du für einige Zeit nicht fliegen kannst, hast du Zeit, darüber nachzudenken. Ich glaube, du bist klug genug, diese Zeit zu nutzen.“ Sie sah S’Rella an. „Ich muß nach Klein Amberly zurück. Es liegt auf deinem Weg, falls du in den Süden zurückkehren willst. Hast du nicht Lust, mich zu begleiten und einen Tag bei mir zu verbringen?“
S’Rella nickte freudig. „Ja, gerne. Die Sache ist nur, Val ist noch nicht gesund.“
„Flieger haben unbegrenzten Kredit“, sagte Val. „Wenn ich Raggin genug Eisen biete, wird er mich besser pflegen als meine eigene Mutter.“
„Dann komme ich mit“, sagte S’Rella. „Aber wir werden uns bald wiedersehen, nicht wahr, Val? Jetzt haben wir beide Flügel.“
„Ja“, sagte Val. „Flieg du nur mit deinen, ich werde mich um meine kümmern.“
S’Rella küßte ihn und ging zu Maris hinüber. Sie öffneten die Tür.
„Maris“, rief Val in scharfem Ton.
Durch den Klang seiner Stimme erschreckt, drehte sie sich gerade rechtzeitig um, um zu sehen, wie seine linke Hand ungeschickt hinter seinen Kopf unter das Kopfkissen griff und wieder mit beängstigender Geschwindigkeit hervorkam. Die lange Klinge zerschnitt die Luft und schlug kaum dreißig Zentimeter von Maris’ Kopf gegen den Türrahmen. Aber das Messer war ein Schmuckstück aus Obsidian, glänzend, schwarz und scharf, aber nicht unzerbrechlich. Beim Aufschlag zerbrach es in tausend Stücke.
Maris mußte äußerst erschreckt dreingeblickt haben. Val lächelte. „Es hat niemals meinem Vater gehört“, sagte er. „Mein Vater hat überhaupt nichts besessen. Ich habe es Arak gestohlen.“ Quer durch den Raum trafen sich ihre Blicke, und Val lachte schmerzvoll. „Sieh zu, daß du es loswirst, Einflügler.“
Maris lächelte und bückte sich, um die Splitter aufzuheben.
Teil Drei
Der Sturz
In weniger als einer Minute war sie alt geworden. Als Maris das Haus des Landmannes von Thayos verließ, war sie noch jung. Sie wählte den unterirdischen Gang von seiner kleinen Felsenhütte zur See. Ein feuchter dunkler Tunnel, der durch den Berg führte. Sie ging schnell. In der Hand hielt sie eine Fackel, die Flügel hatte sie auf dem Rücken gefaltet. Echos und das Geräusch von langsam fließendem Wasser umgaben sie. Überall am Boden standen Pfützen, das Wasser zog in ihre Stiefel. Maris beeilte sich, den Tunnel zu verlassen.
Erst als sie auf der anderen Seite des Berges angelangt war, sah sie den Himmel. Er leuchtete in einem bedrohlichen Rotton, einem Violett, das fast schwarz war. Die Farbe verhieß Blut und Schmerz. Der Wind wehte kalt und ungestüm. Maris konnte das heraufziehende Unwetter förmlich schmecken. Sie konnte es an den Wolken erkennen. Sie stand am Fuß der ausgetretenen Stufen, die zur Klippe hinaufführten. Für einen kurzen Augenblick erwog sie, zurückzukehren und die Nacht in der Hütte zu verbringen, ihren Flug bis zur Dämmerung aufzuschieben.
Andererseits mißfiel ihr der Gedanke an den Rückweg durch den Tunnel, und überhaupt mochte sie diesen Ort nicht. Thayos schien ihr ein dunkles und hartes Land zu sein, und der Landmann war ausgesprochen ungehobelt. Seine Brutalität wurde kaum von den Anzeichen seiner Stellung als Landmann und Rieger kaschiert. Die Botschaft, die er ihr aufgetragen hatte, lastete schwer auf ihr. Aus seinen Worten hatten Wut und Kriegslust geklungen. Maris wollte die Botschaft so schnell wie möglich übermitteln und vergessen, um sich von dieser Last zu befreien.
Sie löschte die Fackel und
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