Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kinder der Stürme

Kinder der Stürme

Titel: Kinder der Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R.R. Martin
Vom Netzwerk:
stieg die Stufen mit großen, hastigen Schritten hinauf. Ihr Gesicht war von Falten gezeichnet, und ihre Haare wurden langsam grau, aber Maris war immer noch so anmutig und lebhaft wie mit zwanzig.
    Oben, wo die Stufen in eine breite steinerne Plattform übergingen, entfaltete sie ihre Flügel.
    Sofort fingen sie den Wind ein, der an ihnen riß, während Maris die letzten Streben einrasten ließ. Der rote Schein des aufkommenden Sturmes warf einen dunklen Schatten auf das silberne Metall, und die Strahlen der untergehenden Sonne hinterließen rote Streifen darauf, die wie eine frische Wunde aussahen, in der das Blut pulsierte. Maris beeilte sich. Sie wollte den Sturm im Rücken haben, damit er ihre Geschwindigkeit beschleunigte. Sie schnallte die Gurte fest und überprüfte die Flügel ein letztes Mal. Dann umfaßte sie die wohlvertrauten Griffe. Mit zwei schnellen Schritten sprang sie von der Klippe ab, wie sie es unzählige Male vorher getan hatte. Der Wind war ihr kalter und wahrer Geliebter. Sie gab sich seiner Umarmung hin und flog.
    Am Horizont sah sie einen Blitz aufleuchten, einen langanhaltenden Dreizack am östlichen Himmel. Dann ließ der Wind nach. Sie verlor an Höhe und fiel hinab. Sie drehte sich und suchte nach einem stärkeren Aufwind, als sie plötzlich vom Wind wie von einem Peitschenschlag getroffen wurde. Mit schrecklicher Gewalt blies der Wind aus dem Nirgendwo. Während sie sich bemühte ihn zu reiten, hatte er auch schon seine Richtung geändert. Dann ein zweites und ein drittes Mal. Regen schlug ihr ins Gesicht. Blitze blendeten sie, und in ihren Ohren klopfte es.
    Der Sturm trieb sie rückwärts, dann überschlug sie sich wie ein Spielzeug. Sie hatte keine Wahl mehr, keine Chance. Sie war wie ein Blatt im Sturm. Sie wurde hin und her getrieben, bis ihr übel wurde und ihr zum Bewußtsein kam, daß sie abstürzte. Sie blickte über die Schulter und sah den Berg näher kommen, eine steile nasse Felswand. Sie versuchte auszuweichen, aber ihr gelang lediglich, sich in der wilden Umarmung des Windes zu drehen. Ihr linker Flügel streifte den Felsen und brach. Maris fiel auf die Seite. Sie schrie. Ihr linker Flügel war lahm. Sie dachte daran, mit einem Flügel zu fliegen, aber sie wußte, daß es aussichtslos war. Der Regen nahm ihr die Sicht, der Sturm hatte sie in seinen tödlichen Klauen. Ihr letzter klarer Gedanke sagte Maris, daß dies der Tod war.
    Die See nahm sie, brach sie und spuckte sie aus.
    Am nächsten Tag fand man sie am Felsstrand, drei Meilen von der Fliegerklippe von Thayos. Sie war verwundet und ohne Bewußtsein, aber sie lebte.
    Als Maris einige Tage später aufwachte, war sie alt.
    Während der ersten Woche war sie selten voll bei Bewußtsein, und später konnte sie sich kaum an etwas erinnern. Schmerzen, wenn sie sich bewegte und wenn sie sich nicht bewegte, ob sie wach war oder schlief. Die meiste Zeit über schlief sie, und ihre Träume schienen ihr ebenso realistisch wie die ständigen Schmerzen. Sie ging durch lange unterirdische Gänge, ging so lange, bis ihre Beine fürchterlich schmerzten, aber niemals gelang es ihr, die Stufen zu finden, die sie zum Himmel führten. Sie fiel endlos durch die windstille Luft. Ihre Kraft und ihr Geschick halfen ihr nicht. Sie stand vor hunderten von Leuten in der Versammlung und argumentierte, aber ihre Worte klangen undeutlich und niemand hörte ihr zu. Ihr war heiß, schrecklich heiß, aber sie konnte sich nicht bewegen. Jemand hatte ihre Flügel weggenommen und ihre Arme und Beine festgebunden. Sie versuchte sich zu bewegen, zu sprechen. Sie hatte einen Auftrag, sie mußte eine wichtige Botschaft überbringen. Sie konnte sich nicht bewegen, sie konnte nicht sprechen. Sie wußte nicht einmal, ob ihr Tränen über die Wangen liefen, oder ob es Regen war. Jemand trocknete ihr Gesicht und gab ihr eine dickflüssige bittere Medizin.
    Dann war sie sich bewußt, daß sie in einem großen Bett lag. In der Nähe befand sich ein Kamin mit einem lodernden Feuer. Man hatte sie in Decken und Felle gehüllt. Ihr war heiß, schrecklich heiß. Sie versuchte die Decken abzustreifen, aber sie schaffte es nicht.
    Anscheinend kamen und gingen Leute im Zimmer aus und ein. Einige von ihnen erkannte sie – es waren ihre Freunde –, aber obwohl sie sie bat, die Decken wegzunehmen, reagierte niemand. Man schien sie nicht zu hören, aber oftmals saß jemand an ihrem Bett und redete mit ihr. Sie sprachen von vergangenen Dingen, als gäbe es sie noch. Das

Weitere Kostenlose Bücher