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Kinder der Stürme

Kinder der Stürme

Titel: Kinder der Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R.R. Martin
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verbittert, „die nicht auf besseres Flugwetter warten konnte. Sie hat dich in den Sturm geschickt, in dem du so schwerverletzt wurdest. Es hätte dein Tod sein können. Der Krieg hat zwar noch nicht begonnen, aber sie mißachten bereits das Leben des Menschen.“
    Seine Verbitterung betrübte sie mehr als sein Gerede vom Krieg, das sie nur verwirrte. „Evan“, sagte sie freundlich, „der Rieger entscheidet, wann er fliegt. Krieg oder nicht, die Landmänner haben keine Macht über uns. Es war mein Eifer, eure kleine karge Insel zu verlassen, der mich veranlaßte, bei diesem Wetter zu starten.“
    „Und jetzt ist meine kleine karge Insel für lange Zeit dein Zuhause.“
    „Für wie lange?“ fragte sie. „Wann kann ich wieder fliegen?“
    Er sah sie an, ohne ihr zu antworten.
    Maris befürchtete das Schlimmste. „Meine Flügel!“ Sie versuchte sich aufzurichten. „Sind sie verlorengegangen?“
    Evan legte ihr schnell die Hand auf die Schulter. „Nicht bewegen!“ Seine blauen Augen strahlten.
    „Das hab’ ich vergessen“, flüsterte sie. „Ich werde ruhig liegenbleiben.“ Ihr ganzer Körper klopfte schmerzhaft als Antwort auf die Anspannung. „Bitte … was ist mit meinen Flügeln?“
    „Sie sind bei mir“, sagte er. Er schüttelte den Kopf. „Flieger. Daran hätte ich denken müssen – ich habe schon andere Flieger behandelt. Ich hätte sie über dein Bett hängen sollen, dann hättest du sie gleich beim Aufwachen gesehen. Der Landmann wollte sie reparieren lassen, aber ich habe darauf bestanden, sie hier zu behalten. Ich hole sie dir.“ Er verschwand im Nebenzimmer. Nach einigen Minuten kam er mit den Flügeln zurück.
    Sie waren verbogen und teilweise gebrochen und ließen sich nicht ordentlich falten. Das metallige Gewebe der Flügel war eigentlich unzerstörbar, aber die Streben waren aus gewöhnlichem Metall, und Maris konnte erkennen, daß einige mehrmals gebrochen waren, während andere eigenartig verbogen waren. Das glänzende Metall war mit Dreck überzogen. Die unbedarfte Weise, in der Evan die Flügel hielt, ließ sie hoffnungslos ruiniert aussehen.
    Aber Maris wußte es besser. Sie waren nicht im Meer verlorengegangen. Man konnte sie wieder reparieren. Sie fieberte danach, sie aus der Nähe zu betrachten. Sie waren ihr Leben. Sie würde wieder fliegen können.
    „Danke“, sagte sie zu Evan und versuchte, die Tränen zu unterdrücken.
    Evan hängte die Flügel am Fuß des Bettes an die Wand. So konnte Maris sie gut sehen. Dann wandte er sich wieder ihr zu.
    „Es wird länger dauern und schwieriger sein, dich wieder gesund zu machen, als die Flügel zu reparieren“, sagte er. „Viel länger, als dir lieb sein wird, denn es ist keine Frage von Wochen, sondern von Monaten, vielen Monaten. Und dennoch kann ich dir nichts versprechen. Deine Knochen waren gebrochen, und du hattest schlimme Fleischwunden. In deinem Alter ist es schwierig, die volle Kraft wiederherzustellen. Du wirst wieder gehen können, aber mit dem Fliegen …“
    „Ich werde fliegen. Meine Beine, meine Rippen und meine Arme werden heilen“, sagte Maris ruhig.
    „Ja, wenn sie genug Zeit haben, denke ich, daß sie heilen. Aber das ist vielleicht nicht genug.“ Er kam näher, und sie sah den Ernst in seinem Gesicht. „Die Kopfverletzungen … haben vielleicht deine Sehkraft und deinen Gleichgewichtssinn beeinträchtigt.“
    „Hör auf“, sagte Maris. „Bitte.“ Tränen liefen über ihre Wangen. „Es ist noch zu früh“, sagte Evan. „Es tut mir leid.“ Er streichelte ihre Wangen und wischte die Tränen ab. „Du brauchst Ruhe und Hoffnung und keine Sorgen. Du brauchst Zeit, um dich zu stärken. Du wirst die Flügel wieder tragen, aber nicht, bevor du vollkommen in Ordnung bist, nicht bevor ich es dir erlaube.
    „Ein landgebundener Heiler … will einem Flieger sagen, wann er fliegen darf“, spottete Maris mürrisch.
    Obwohl es etwas war, das sie erdulden konnte, war eine Zeit der erzwungenen Passivität nichts für Maris. Die Tage vergingen, und Maris blieb immer länger wach. Sie wurde ungeduldig. Evan leistete ihr oft Gesellschaft, er überredete sie, etwas zu essen und erinnerte sie daran, sich nicht zu bewegen. Er redete und erzählte und versuchte so, ihren Geist herauszufordern, während ihr Körper ruhig dalag.
    Evan erwies sich als ausgezeichneter Geschichtenerzähler. Er verstand sich eher als ein Beobachter des Lebens, denn als ein Teilnehmer. Er verfügte über einen unvoreingenommenen

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