Kinder der Stürme
Fels gehauen worden. Die äußeren Anlagen bestanden aus zwei doppelten Steinwällen, auf deren Wehren mit Langbögen versehene Landwachen patrouillierten. Sie umgaben ihrerseits eine Gruppe von Holzbauten und zwei schwarze Türme. Der höhere von beiden war fast 150 Meter hoch. Stabile Holzbalken verschlossen die Turmfenster. Da das Tal so dicht am Meer lag, war es feucht und kalt. Der einzige Bewuchs bestand aus zähen violetten Flechten und einem blaugrünen Moos, das an der Unterseite der Felsblöcke wuchs und die Mauern der Festung zur Hälfte bedeckte.
Maris und Evan kamen auf der Straße von Thossi. Sie wurden von einem Wachtposten am Eingang des Tales angehalten. Sie durften passieren. Bei den äußeren Mauern mußten sie noch einmal anhalten. Schließlich gewährte man ihnen Zutritt. Womöglich hätten sie noch länger warten müssen, aber Maris trug ihre glänzenden silbernen Flügel, und kein Landwächter traute sich, einen Flieger mit Kleinigkeiten zu behelligen. Der innere Burghof pulsierte vor Leben. Kinder spielten mit großen gefleckten Hunden, überall rannten furchteinflößende Schweine herum, Land wachen exerzierten mit Bogen und Keulen. An einer Mauer war ein Galgen errichtet worden, sein Holz war rissig und verwittert. Die Kinder spielten überall. Eines benutzte die Schlinge des Galgens als Schaukel. Die anderen beiden schwangen im leisen Abendwind hin und her.
„Dieser Ort bedrückt mich“, sagte Maris zu Evan. „Der Landmann von Klein Amberly lebt in einem großen hölzernen Herrenhaus auf einem Hügel, von dem man die ganze Stadt überblicken kann. Es hat zwanzig Gästezimmer, einen riesigen Festsaal, wundervolle Fenster mit bunten Scheiben und einen Leuchtturm für die ankommenden Flieger. Und dort gibt es keine Wälle, keine Wachen und keine Galgen.“
„Der Landmann von Klein Amberly wurde vom Volk gewählt“, sagte Evan. „Der Landmann von Thayos entstammt einer Familie, die seit den Tagen der Sternensegler hier regiert hat. Auch darfst du nicht vergessen, daß der Osten ein viel rauheres Land ist als der Westen, Maris. Der Winter dauert hier viel länger. Unsere Stürme sind kälter und gewaltiger. Unser Boden ist zwar erzhaltig, aber er eignet sich nicht so gut für den Ackerbau wie der Boden im Westen. Thayos ist fast immer von Hungersnöten und Krieg bedroht.“
Sie passierten ein massives Tor und waren im Innern der Festung. Maris schwieg.
Der Landmann begrüßte sie in seinem Empfangszimmer. Er saß auf einem schlichten hölzernen Thron, flankiert von zwei grimmig dreinblickenden Landwachen. Als sie eintraten erhob er sich. Landmänner und Flieger hatten den gleichen Rang. „Ich freue mich, daß du meiner Einladung folgen konntest, Fliegerin“, sagte er. „Wir haben uns Sorgen um deine Gesundheit gemacht.“
Trotz der höflichen Worte mochte Maris ihn nicht. Der Landmann war ein großer, wohlproportionierter Mann mit ebenmäßigen, fast hübschen Gesichtszügen. Er trug sein langes graues Haar zu einem Knoten zusammengefaßt, so wie es im Osten Mode war. Aber sein Äußeres hatte etwas Merkwürdiges. Um die Augen herum war sein Gesicht aufgedunsen, und seine Mundwinkel wiesen ein Zucken auf, das auch sein Vollbart nicht verbergen konnte. Er war dunkel und teuer gekleidet. Er trug einen dicken blau-grauen Umhang, der mit schwarzem Pelz besetzt war, hohe Stulpenstiefel und einen breiten Ledergürtel, in den Eisen, Silber und Edelsteine eingelegt waren. Außerdem trug er einen kleinen Metalldolch.
„Ich weiß deine Besorgnis zu schätzen“, antwortete Maris. „Ich war bös verletzt, aber ich habe mich inzwischen gut erholt. Euer Heiler hier versteht sein Handwerk. Ich habe schon viele Heiler getroffen, aber nur wenige waren so geschickt wie er.“
Der Landmann ließ sich wieder auf dem Thron nieder. „Er wird gut belohnt werden“, sagte er, als wäre Evan gar nicht anwesend. „Gute Arbeit verdient guten Lohn, nicht wahr?“
„Ich werde Evan selbst bezahlen“, sagte Maris. „Ich besitze genügend Eisen.“
„Nein“, beharrte der Landmann. „Daß du in meinen Diensten dem Tod so nahe warst, hat mich tief getroffen. Laß mich dir meine Dankbarkeit zeigen.“
„Ich zahle meine Schulden selbst“, sagte Maris.
Die Gesichtszüge des Landmannes verhärteten sich. „Nun gut“, sagte er. „Wir müssen noch über etwas anderes reden. Aber damit wollen wir bis zum Essen warten. Dein Marsch muß dich hungrig gemacht haben.“ Er stand abrupt auf. „Komm mit.
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