Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kinder der Stürme

Kinder der Stürme

Titel: Kinder der Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R.R. Martin
Vom Netzwerk:
kämen und ihr Fragen stellten. Sie landete ohne fremde Hilfe unbemerkt in aufgewirbeltem Sand und befreite sich von ihren Flügeln.
    Am Ende des Landestreifens, am Fuß der Sprungklippe, stand Dorreis einfache Hütte. Sie war dunkel und leer. Als er auf ihr Klopfen nicht antwortete, öffnete sie die unverschlossene Tür, trat ein und rief seinen Namen. Nichts rührte sich. Ein Gefühl der Enttäuschung wich plötzlicher Nervosität. Wo mochte er sein? Wie lange war er schon fort? Was wäre, wenn Corm sie hier vermutete und aufspürte, bevor Dorrel zurück war?
    Sie entfachte die schwach glimmenden Kohlen im Kamin und zündete eine Kerze an. Dann sah sie sich in der kleinen, sauberen Hütte um. Sie suchte einen Hinweis, wo Dorrel sein könnte und wie lange er schon unterwegs war.
    Da: Der ordentliche Dorrel hatte einige Krümel Fischpastete auf dem Tisch zurückgelassen. Sie warf einen Blick in die gegenüberliegende Ecke. Das Haus war tatsächlich völlig verlassen. Da auch Anitra nicht auf ihrer Stange saß, war anzunehmen, daß Dorrel mit seinem Nachtfalken auf der Jagd war.
    Maris hoffte, daß sie nicht weit wären, stieg noch einmal auf und begab sich auf die Suche. Schließlich fand sie ihn auf einem Felsen in den trügerischen Untiefen im äußersten Westen von Laus. Mit angelegten, aber gefalteten Flügeln saß er da. Anitra saß auf seinem Handgelenk und fraß einen Fisch, den sie gerade gefangen hatte. Dorrel sprach mit dem Vogel. Er bemerkte Maris erst, als sie über ihm schwebte und ihre Flügel die Sterne verdunkelten.
    Dann starrte er hinauf, während sie gefährlich tief über ihm kreiste. Einen Moment zeigte sein ausdrucksloses Gesicht, daß er sie nicht erkannte.
    „Dorrel“, rief sie. Spannung klang in ihrer Stimme.
    „Maris?“ Ungläubigkeit zeichnete seine Miene.
    Sie änderte die Richtung und erwischte einen Aufwind. „Komm ans Ufer, ich muß mit dir reden.“
    Dorrel nickte, stand auf und ließ den Falken fliegen. Der Vogel ließ widerstrebend den Fisch fallen und stieg in den Himmel. Mühelos glitt er auf blaßweißen Flügeln dahin und wartete auf seinen Herrn. Maris kehrte zu ihrem Ausgangspunkt zurück.
    Als sie dieses Mal über dem Landestreifen herunterkam, fiel sie jäh und plump herab und schürfte sich die Knie auf. Maris war völlig durcheinander. Die durch den Diebstahl bedingte nervliche Anspannung, die Anstrengungen des langen Fluges nach etlichen Tagen Pause und das seltsame Gemisch aus Schmerz, Angst und Freude beim Wiedersehen mit Dorrel überwältigten sie. Sie wußte nicht, was sie tun sollte. Noch bevor Dorrel gelandet war, begann sie die Flügel abzunehmen. Die Arbeit sollte sie von ihren Gefühlen ablenken. Sie wollte jetzt nicht nachdenken. Ihre Knie waren aufgeschlagen, Blut lief ihre Beine entlang.
    Dorrel landete leicht und elegant neben ihr. Ihr plötzliches Auftauchen hatte ihn verwirrt, aber er konzentrierte sich dennoch auf seinen Flug. Es war keine Angeberei, sondern seine angeborene Veranlagung, so wie man ihm die Flügel vererbt hatte. Nachdem er die Flügel gelöst hatte, setzte sich Anitra auf seine Schulter.
    Er ging auf Maris zu und streckte die Arme aus. Der Nachtfalke krächzte wütend. Ungeachtet des Vogels wollte er sie umarmen, doch Maris warf ihm die Flügel entgegen.
    „Hier“, sagte sie. „Ich habe es mir anders überlegt. Ich habe Corm die Flügel gestohlen und nun liefere ich sie und mich an dich aus. Ich bin gekommen, um dich zu bitten, eine Versammlung für mich einzuberufen. Nur Flieger können das; ich bin kein Flieger, aber du.“
    Dorrel sah sie an, wie jemand, der aus dem Tiefschlaf gerissen wurde. Maris wartete ungeduldig auf seine Reaktion. Sie war todmüde. „Oh, ich werde dir alles erklären“, sagte sie. „Laß uns in deine Hütte gehen, dort kann ich mich etwas ausruhen.“
    Es war ein langer Weg bis zur Hütte, aber sie sprachen nicht miteinander und berührten sich nicht. Nur einmal fragte er sie, „Maris hast du sie wirklich gestohlen?“
    Sie schnitt ihm das Wort ab. „Ja, wie ich gesagt habe.“ Sie stieß einen tiefen Seufzer aus und ging auf ihn zu, um ihn zu umarmen – im letzten Moment blieb sie stehen. „Verzeih mir, Dorrel, ich wollte nicht … Ich bin todmüde, und ich glaube, ich habe Angst. Ich hätte nie gedacht, daß wir uns unter solchen Umständen wiedersehen würden.“ Dann schwieg sie wieder, und er drängte sie nicht. Nur Anitra brach die nächtliche Stille mit ihrem Geschimpfe und Gekrächze über

Weitere Kostenlose Bücher